Schweizer greifen in der Krise zum Wein - Artikel im Tagesanzeiger vom 30. Oktober 2020

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Text Mathias Morgenthaler

Allzu sehr jubeln mag Dominic Blaesi nicht. Ja, es laufe gerade sehr gut, aber viele Partner wür­den die härteste Zeit seit Jahren durchmachen, sagt der Ökonom, der vor 13 Jahren mit Renzo Schweri das Weinportal Flaschenpost lanciert hat.

Schwierig ist es für jene Wein­handlungen, die stark auf das Gastgewerbe ausgerichtet sind. Für Blaesi und Schweri, die von Anfang an auf Privatkunden fo­kussierten,  geht die Rechnung dagegen voll auf. Jahr für Jahr ist Flaschenpost um mindestens 20 Prozent gewachsen, im letz­ten Jahr zählte das junge Unter­nehmen 70'000 Kunden und knapp über eine Million ausge­lieferter Flaschen.

Dann kam Corona -  und mit der Zwangsschliessung von Lä­den und Lokalen ging das Ge­schäft durch die Decke. «Die Ver­käufe haben sich im Frühling verdreifacht im Vergleich zum Vorjahr», sagt Blaesi. «Weil die Menschen nicht mehr ins Res­taurant gehen konnten,  bestell­ten sie sich mehr Wein nach Hause - viele verabredeten sich auch uDas zu virtuellen Apéros mit Freun­den oder schickten Mitarbeitern Wein ins Homeoffice.»

Für Kenner und Laien

Speziell die Verkäufe an über 65-jährige Kunden hätten stark zugelegt, sagt Blaesi, weil ältere Menschen früh dazu aufgefor­dert worden seien, zu Hause zu bleiben. 30'000 neue Kundinnen und Kunden hat Flaschenpost. im Corona-Jahr gewonnen. Der Umsatz dürfte laut Blaesi «um 80 Prozent oder mehr» über dem Vorjahr liegen. In Spitzenzeiten verschickt das fünfzigköpfige Flaschenpost-Team mehr als 10'000 Flaschen pro Tag.

Als grosse Plattform mit 30'000 Weinen im Angebot rich­tet sich Flaschenpost nicht nur an Weinkenner, sondern auch an Laien, die erst herausfinden wollen, was sie gerne mögen. So hilft ein Algorithmus dem Besucher der Website, den passenden Weintyp zu finden und diverse Varianten kennen zu lernen.

Karl Schefer, Gründer und Ge­schäftsleiter des Biowein-Pio­niers Delinat, berichtet ebenfalls von einem ausserordentlichen Jahr. «Im Frühling war die Nach­frage im Webshop gut 50 Prozent höher als im Vorjahr», sagt er. Da sei es zu Lieferengpässen ge­kommen. Glücklicherweise habe Delinat vielen Winzern weitere Bestände abkaufen können. So hätten Zehntausende von Fla­schen, die für das Gastgewerbe bestimmt waren, zusätzlich ab­ gesetzt werden können. Fürs Ge­samtjahr rechnet Schefer mit einem Plus von gut 20 Prozent. Die Schwankungen sind bei De­linat geringer, weil die Hälfte des Umsatzes mit einem seit dreis­sig Jahren etablierten Abo-Mo­dell erzielt wird. Beim Geschäft über den Webshop habe Delinat davon profitiert, «dass Kunden sich in der Corona-Zeit stärker für Gesundheitsthemen interes­sieren». Die Biowein-Nische sei dadurch gewachsen.

Philipp Schwander, erster Mas­ter of Wine der Schweiz, spricht vom «besten Jahr seit der Fir­mengründung vor 17 Jahren». Schwander, der ebenfalls deut­lich über eine Million Flaschen pro Jahr absetzt, rechnet für die­ses Jahr mit einem Umsatzplus von rund 30 Prozent.

Im Frühling habe er befürch­tet, die Leute würden jetzt spa­ren und ihre Kellerbestände auf­ brauchen. Doch die Bestellungen hätten im Gegenteil rasch ange­zogen. «Viele Kunden nehmen sich nun mehr Zeit fürs Kochen und möchten zum Essen einen guten Wein trinken - zudem spa­ren sie Geld, weil die Ausgeh­möglichkeiten beschränkt sind.»

Aperos schon vor dem Mittag

Und vielleicht würden manche den Wein auch dazu nutzen, die schwierige Situation besser zu ertragen, ergänzt der 55-Jährige. Auffällig oft habe er in diesem Jahr Bilder zugeschickt erhalten von Apéros deutlich vor der Mit­tagszeit.

Schwander, der beim Verkauf lange Zeit fast ausschliesslich auf den Versand von Prospekten ge­setzt hat, spricht nun auch über einen modernen Webshop neue Kundschaft an. «Wir hatten mehr Glück als Verstand, dass unser neuer Internetauftritt kurz vor dem Lockdown fertig wurde.» Deshalb wisse er nicht genau, ob die vielen Neukunden auf Coro­na oder die erhöhte Webpräsenz zurückzuführen seien.

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