FEINE NASE FÜR GUTE TROPFEN - Artikel in der Schweizer Familie im Dezember 2020

Am 8. Dezember 1983 trinkt Philipp Schwander 1976er-Champagner «Cristal» aus dem Hause Louis Roederer und vermerkt dazu in seinem Degustationsheft: «Sehr mild, sehr kultiviert und verfeinert, fast cremig. Und ein langes Anhalten des Geschmacks verhilft zu einem mustergültigen Abgang.» Schwander ist zu diesem Zeitpunkt 18-jährig und blickt auf einen nicht sehr mustergültigen Abgang von der Kantonsschule St. Gallen zurück. Während andere Jugendliche im Sportverein aufblühen oder in der Schule gute Noten erzielen, interessiert sich Schwander seit seinem 16. Lebensjahr fast ausschliesslich für Wein. Dem Schulunterricht bleibt er so oft fern, dass seine Mutter ihn schliesslich vom Gymnasium nimmt und für eine kaufmännische Lehre anmeldet. Aber insgeheim fragt sie sich schon: Was soll aus dem Kind bloss werden, das wegen seiner äusserst feinen Geschmacksnerven bereits im Babyalter am Brei herumgenörgelt hat, aber keinen Ehrgeiz zeigt, etwas Anständiges zu lernen?

«Das Leidige ist nur, dass er eine unerhört lange Reifezeit benötigt» – was Philipp Schwander am 7. April 1985 über einen 1961er-Barolo-Rotwein namens Monfortino notiert hat, wird der eine oder andere Lehrer auch über den Schüler Schwander gedacht haben. Doch dieser findet nach dem Lehrabschluss überraschend schnell seinen Weg. Er kann beim Weinhändler Martel im Einkauf sein Talent unter Beweis stellen und einige Zeit später die Verantwortung für den gesamten Einkauf übernehmen. Da zeigt sich: Wenn er in seinem Element ist, schreckt er nicht vor Arbeit zurück, ganz im Gegenteil. Oder wie es sein Vater, Deutschlehrer mit einem Flair für gute Weine, ausgedrückt hat: «Wenn er will, kann er schon.» Längst ist aus dem schwer Erziehbaren ein international angesehener Experte und sehr erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Er ist der erste Schweizer, der die enorm schwierige Prüfung zum «Master of Wine» bestanden hat. Seit 17 Jahren führt der 55-Jährige sein eigenes Geschäft. Rund 70 000 Kunden setzen auf die «ausgesuchten Weine» der «Selection Schwander», 2020 war das mit Abstand beste Jahr der Firmengeschichte. Schwanders Erfolgsrezept: Er besucht Jahr für Jahr sehr viele Winzer und beschreibt in den Verkaufsprospekten nicht nur die einzelnen Weine, sondern schildert der Kundschaft spannende Geschichten über die Produzenten und ihre Weinregionen. Bei jenen Winzern, mit denen er schon länger zusammenarbeitet, nimmt Schwander oft direkt Einfluss auf die Weinerzeugung.

Qualität vor Prestige

Seine feine Nase und sein sicherer Geschmackssinn ermöglichen es ihm, der Konkurrenz oft einen Schritt voraus zu sein. So war er einer der Ersten, die mit aufstrebenden Winzern aus Österreich zusammenarbeiteten – einem Land, das in Sachen Wein lange Zeit einen schlechten Ruf  hatte.  Ein  weiterer  Erfolgsfaktor:

Schwanders   Weine   sind oft erstaunlich preiswert: Dieses Jahr hat er seine Kundschaft mit vier Bordeaux-Weinen für deutlich unter 20 Franken überrascht. Mehr als 200 Weine aus der Prestigeregion hat Schwander degustiert, bevor er vier für sein Sortiment ausgewählt hat. Qualität ist für Schwander längst wichtiger geworden als Prestige. Auch das schätzt die Kundschaft. Die ungewohnt günstigen Bordeaux-Weine in Schwanders Sortiment waren ein Renner.

Überhaupt läuft das Geschäft inzwi-schen so gut, dass Schwander sich zur Ruhe setzen könnte – «wenn er sich wie ein vernünftiger Mensch verhalten würde». Diese Einschätzung stammt von Schwanders Lebenspartnerin, die ebenfalls im Unternehmen tätig ist und als Wirtschaftsprüferin manchmal leer schlucken muss, wenn Schwander sich in ein neues Abenteuer stürzt. Denn die Vernunft hat beim gebürtigen St. Galler auch heute noch selten das letzte Wort.

Hotel- und Rebbergbesitzer

An diesem Sonntag lenkt der Weinhändler seinen schweren Wagen aus Zürich hinaus in Richtung Bodensee, um dem Journalisten ein Objekt seiner Unvernunft zu zeigen. Wir steuern Schloss Freudental an, ein weit über die Region hinaus bekanntes Barockschlösschen auf der BodanrückHalbinsel, das Schwander in ein kleines, hochstehendes Landhotel mit 15 Zimmern umgebaut hat. Eigentlich hatte er ein Haus im Raum Zürich kaufen wollen; als ihm ein Architekt 2011 berichtete, das schönste Schloss der Bodenseeregion stehe zum Verkauf, sagte Schwander, er sei «doch nicht bescheuert» – und schlug wenig später zu. Die Sache sei ihm «ein wenig entglitten», sagt der Schlossherr auf der Anfahrt gut gelaunt, eigentlich hätte er wissen müssen, dass der Kaufpreis vernachlässigbar sei im Vergleich zu den Restaurationskosten. Doch der Kraftakt hat sich mehr als gelohnt. Wer Schwander im 1698 bis 1700 erbauten Jagd- und Lustschlösschen über die Stuckaturdecken, die Barockgemälde an den Wänden oder den 150 Kilogramm schweren Murano-Kronleuchter erzählen hört, spürt unmittelbar seine Passion für höchste Qualität. «Entweder mache ich etwas richtig oder gar nicht», lautet sein Credo. Nun hofft er, dass der Hotelbetrieb bald wieder aufgenommen werden kann. Die Wochenenden waren vor dem Corona-bedingten Unterbruch auf zwei Jahre hinaus ausgebucht.Nächstes Jahr wird Schwander mit einem anderen «Unvernunftsprojekt» von sich reden machen: Bald kommen die ersten Flaschen «Sobre Todo» aus eigener Produktion auf den Markt. «Wie die Jungfrau zum Kinde» sei er zu einem der besten und höchstgelegenen Rebberge im spanischen Priorat-Gebiet gekommen, sagt Schwander. Der «Sobre Todo» soll nicht nur geografisch «über allem» liegen, sondern auch in Sachen Qualität. Drei Jahre lang ist die 2016er-Ernte im Fass gelegen, nur die besten Partien wurden verwendet. Prompt erhielt Schwanders Priorat bei der ersten Degustation des Fachmagazins «Falstaff» 98 von 100 Punkten.

Ähnlich spektakulär wie der  Wein  ist das Etikett, für das Schwander die Schweizer Banknoten-Designerin Manuela Pfrunder und Armin Waldhauser,  den langjährigen Notengraveur von Orell Füssli, engagiert hat. Je nach Betrachtungswinkel entdeckt man immer wieder neue, spannende Details auf dem zunächst schlicht wirkenden Etikett. Je mehr Schwander sich bei der Beschreibung ins Feuer redet, desto besser versteht man, warum dieser Mensch so schlecht ins enge Schulkorsett gepasst hat. Wenn er sich  in eine Sache verliebt, dann kennt seine Hingabe keine Grenzen. Darin ist er dem Künstler enger verwandt als dem Geschäftsmann.

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