«Ein absoluter Humbug» - Interview mit Philipp Schwander im Marmite

TEXT: ANDRIN C. WILLI, BILDER: CHRISTINE BENZ

Wer sich ein Barockschloss zulegt, muss schon etwas Geld auf der Seite haben. Ist der Weinhandel so ein lukratives Geschäft?

Ich gestehe: Ich habe das Projekt unterschätzt. Glücklicherweise konnte ich das Anwesen zu einem vergleichsweise günstigen Preis erwerben. Ausserdem verteilte sich die Renovation auf über sieben Jahre.

Was kostet das Hobby?

Ich bin tatsächlich zehnfach übers Budget. Allerdings war dieses zu Beginn unrealistisch klein. Nun bin ich jedoch zuversichtlich, dass wir nächstes Jahr beim Hotelbetrieb den Break-Even erreichen werden – ohne die Investitionen zu berücksichtigen. Das macht aus einem Hobby ein grosses Hobby. Für mich hat sich die Investition in jeder Hinsicht gelohnt. Es ist, kunsthistorisch gesehen, eines der wertvollsten Barockgebäude am Bodensee. Reich wird man damit aber definitiv nicht.

Reich an Erkenntnis?

Ich habe sehr viel gelernt. Mittlerweile weiss ich, wie man im Barock Stuckaturen gezogen hat, warum der Sandstein aus dem Schwarzachtobel als härtester der Welt gilt und ich kenne mich ein wenig in der Kunst des Barock aus. Dazu kommt die Freude am Erreichten: Freudental ist nun derart schön geworden, dass es mir und hoffentlich vielen anderen Menschen viel Freude bereitet. Ich gehe heute mit offeneren Augen durchs Leben.

Weil man als Master of Wine sonst vor allem auf eines fokussiert ist?

Ja. Das Schloss hat mich erzogen, die Welt mit anderen Augen zu betrachten. Selbst wenn es nun von einem Meteor getroffen würde, niemand kann mir dieses Wissen und diese Erfahrungen mehr nehmen – das ist viel wert.

Apropos Wertvermehrung. Sollte man in Fine-Wine-Fonds investieren?

Nein.

Warum nicht?

Weil die meisten Fonds Weine enthalten, die nicht im Wert steigen. Wer Rendite im Wein erzielen will, braucht sich nur an eine Regel «Ein absoluter Humbug» zu halten: Kaufe ausschliesslich die berühmtesten Weine der allerbesten Jahrgänge. Das Problem dabei ist: Genau von diesen Weinen bekommt man fast nichts, schon gar nicht für einen Weinfonds. Wer an Auktionen kauft, weiss zudem nicht, wie diese Weine gelagert wurden. Ausserdem gibt es darunter viele Fälschungen.

Was trinken wir hier?

Einen Sauvignon blanc aus dem Bordelais, 2017, von Château Bauduc. Er wurde im Stahltank vergoren, ist saftig und klar.

Was verdient ein Supermarkt wie Aldi, wenn er die Flasche Vinho Verde (Pavao) für 4.79 Franken verkauft?

Die Margen sind sehr unterschiedlich, aber Wein ist für den Supermarkt interessant, weil der Konsument oft nicht vergleichen kann. Milch oder Brot, da kennt jeder den Preis, aber beim Wein ist das anders. Man kann Eigenmarken kreieren, die einen Vergleich verunmöglichen und höhere Margen generieren.

Was heisst das in Zahlen?

Die Marge kann ohne Weiteres bei 50 Prozent liegen.

Was verdient der Produzent dabei?

Verdienst geht bei solchen Weinen nur übers Volumen. Teilweise sind die Weine auch subventioniert. Wenn der Verkaufspreis bei 4.79 Franken inklusive Mehrwertsteuer liegt, man anschliessend Marge, Zoll, Transport, Glas, Zapfen und Verpackung abzieht, dann bleibt nicht mehr viel übrig.

Wein ist ein Drecksgeschäft.

Nein. Aber in diesem Segment ist es nicht besonders inspirierend. Hier geht es um den Alkoholgehalt und um den Preis.

Ist es nicht traurig mitanzusehen, wie Wein zum süss-aromatisierten Getränk mutiert?

Der Grossteil der Weine war immer schon schlecht. Früher schmeckten sie einfach nach Essig, heute nach Sinalco. Was mich stört, ist der Zucker. Zucker empfinde ich letztlich als viel problematischer als Alkohol. Man geht davon aus, dass 5 Prozent der Menschen das Potential zum Alkoholiker haben und der Rest damit umgehen kann. Aber Zucker ist, ob wir es wollen oder nicht, mittlerweile in zahllosen Nahrungsmitteln präsent. Die durch überhöhten Zuckerkonsum verursachten Krankheiten sind nach wie vor massiv unterschätzt. ›

Massenweine werden am Reissbrett designt, die moderne Önologie hat das Kulturgut abgelöst. Zeit für eine Art Slow Wine Label?

Es gibt ja viele Produzenten, die grossartige, naturbelassene Weine keltern.

Naturweine …?

… sind meist ein absoluter Humbug, die Bezeichnung ist zudem eine unglaubliche Anmassung! Es funktioniert nur, weil es so viele Ignoranten gibt, die von Wein nichts verstehen. Ich habe gerade kürzlich wieder 30 Natural Wines degustiert, 28 davon waren grauenvoll: Böckser, Essigstich usw. Jetzt kann man sagen, das sei natürlich, aber wenn mir der Metzger ein halb vergammeltes Stück Fleisch verkauft und mir sagt, das sei Natur, schliesslich hätte es früher auch keine Kühlschränke gegeben, dann würde man das zu Recht nicht akzeptieren. Ich finde es jedenfalls äusserst bedenklich, wenn solche Produkte auf den Markt gelangen und sich diese Produzenten noch herausnehmen, ihre Weine seien natürlicher als andere. Ich kenne sehr viele Winzer, die genauso natürlich vinifizieren wie diese vermeintlichen «Natural-Wine»-Produzenten. Zudem entstehen bei unsachgemässer Vinifikation «natürliche» Stoffe, die teilweise alles andere als unbedenklich sind! Es gibt nur sehr wenige, wirklich gelungene Natural Wines. Für mich ist dieser Modetrend deshalb reines Marketing, das dem Konsumenten in betrügerischer Absicht vorgaukelt, ein natürlicheres Produkt zu bekommen.

Und deswegen wollen also plötzlich auch herkömmliche Winzer vom medial gehypten Trend profitieren. Was ist Ihrer Meinung nach dran am Natural Wine?

Wenn man zum Beispiel sehr wenig Schwefel verwenden oder eine sehr lange Maischestandzeit bei der Gärung praktizieren möchte, muss man viel vom Handwerk verstehen und besonders sorgfältig arbeiten. Das Problem ist, dass viele Naturweinwinzer önologische Novizen sind und ihre fehlerhaften Produkte heuchlerisch als Naturweine deklarieren. Das ist einfach Sch....e.

Und weshalb soll ein Naturwein nach Schwefel stinken?

Schwefel ist ein Riesenthema bei Naturweinen; man versucht, so weit wie möglich darauf zu verzichten. Schwefel wird seit der Antike in Form von Schwefeldioxid (SO2) gegen das Braunwerden des Weines eingesetzt. Er bindet den Sauerstoff und verhindert so eine vorzeitige Oxidation sowie die Entwicklung von Bakterien und wilden Hefen. Gewissermassen kann der Einsatz von Schwefel beim Wein mit einer Impfung beim Menschen verglichen werden: Es wird der Entstehung von Krankheiten und Fehlern vorgebeugt. Die heute eingesetzten Schwefeldosen sind wesentlich bescheidener als früher und gesundheitlich völlig unbedenklich. Einen Wein ganz ohne Schwefel gibt es übrigens nicht, da einerseits die Hefe während der Vergärung selbst Schwefel produziert (bis zu 20 mg/l), andererseits aber auch der Traubenmost bereits Schwefelkomponenten enthält. By the way: Im Burgund kämpften die besten Produzenten in den letzten Jahren mit der sogenannten Premox-Problematik [Premature Oxidation sprich vorzeitige Oxidation, Anm. d. Red.]. Ein Grossteil davon ist – auch wenn dies niemand zugeben will – auf die zu kleinen Schwefelzugaben zurückzuführen. Es befindet sich dann zwar weniger Schwefel im Wein, der 1000-Franken-Montrachet schmeckt dafür wie ein vergammelter Boskop-Apfel!

Fest steht, dass in Sachen Schwefeln die Meinungen weit auseinandergehen.

Ja, allerdings sollten die Lifestyle-Leute, die Naturweine trinken, konsequenterweise auch auf Fruchtsäfte oder Dörrfrüchte in ihrem Müesli verzichten, wei hier die Schwefelmengen meist deutlich höher liegen als im Wein.

Sind Sie ein leicht reizbarer Mensch?

Im Grunde nicht.

Ausgenommen es geht um Naturwein.

Ich musste viele solcher Weine probieren, und meiner Ansicht nach ist die Bezeichnung eine ungehörige Anmassung, die durch gar nichts zu rechtfertigen ist. Philipp Grassl, Winzer des Jahres in Österreich, arbeitet biologisch im Rebberg, vergärt mit Naturhefen, braucht keine Schönungs- und Klärungsmittel etc., etc. und kann sich zu Recht nicht erklären, weshalb sein Wein nicht auch «natürlich» sein soll.

Kleine These. Die moderne Önologie hat den Bogen überspannt. Eine Zurück-zur-Natur-Gegenbewegung hat sich etabliert. Wein wird wieder wie im Mittelalter hergestellt.

Es ist ein Zeichen von Dekadenz. Aber mittel- bis langfristig scheitert ein solches Projekt, wenn die Produkte fehlerhaft sind. Man kann gute Naturweine keltern! Aber da muss der Winzer wirklich auf Zack sein und mehr wissen und ein Vielfaches sorgfältiger arbeiten als ein konventionell arbeitender Vertreter. Bei einem trockenen Sommer wie 2018 können problemlos gesunde Trauben geerntet werden. Ganz anders aber sieht die Situation aus, wenn es feucht ist. Dann vergammeln die Trauben, sofern man nicht weiss, was in puncto Pflanzenschutz zu tun ist. Die dabei entstehenden Stoffe sind gesundheitlich alles andere als harmlos.

Aber Sie sind es doch, der die Schätze findet. Warum führt Philipp Schwander noch keinen Naturwein?

Weil ich bisher noch nichts gefunden habe, das mich vom Preis-Leistungs-Verhältnis überzeugt hat. Ich habe gute Naturweine getrunken, aber sie waren mir zu teuer oder die Winzer konnten keine vertretbare Menge liefern. Wir haben Naturweine im Programm, die aber nicht explizit als solche verkauft werden. Wer nach diesen Grundsätzen produziert, der macht das aus Überzeugung und nicht aus einer Mode heraus. Auf der anderen Seite finden Sie zahlreiche opportunistische Weinbauern, die nur auf eine biologische Produktion umgestellt haben, weil sie sich einen besseren Absatz versprechen. So ein Verhalten ist problematisch. Daraus entsteht sogar Beschiss, wenn in gewissen Ländern die Kontrollen vernachlässigt und nicht so rigoros durchgeführt werden wie beispielsweise in der Schweiz.

Wollten Sie nie eigenen Wein keltern?

Eigentlich nein, ich bin kein Handwerker. Der Zufall wollte es jedoch, dass ich vor drei Jahren einen der besten Rebberge im Priorat kaufen konnte. Der Wein und das sehr spezielle Etikett werden hoffentlich noch zu reden geben …

Viele Produzenten zeigen sich jovial, hinter den Kulissen herrscht aber ein brutaler Preis- und Verdrängungskampf. Wie hat sich der Markt in ihrer Karriere, also in den letzten dreissig Jahren, verändert?

Es gibt immer mehr Weine, die medial gezielt hochgejubelt werden, um sie dann preislich umso teurer zu verkaufen, auch wenn die Qualität gar nicht besonders viel besser ist. Meist stecken bekannte Winzerfamilien oder Konzerne dahinter (etwa die Antinoris oder LVMH) oder berühmte Persönlichkeiten – Angelina Jolie zum Beispiel, mit ihrem von der Perrin-Familie (Beaucastel) vinifizierten Rosé Miraval. Solche Weine haben sicher ihre Berechtigung, und es gibt viele Konsumenten, die vom Glamour dieser Weine fasziniert sind. Ich aber suche bewusst die Antithese, mir geht es um den Inhalt. Ich möchte die «van Goghs der Weinwelt» entdecken, die zwar ein exzellentes Produkt erzeugen, das aber, aus welchen Gründen auch immer, preislich noch sehr attraktiv ist.

Gilt ein Handschlag zwischen Winzer und Händler noch?

Das Weingeschäft mit den hochstehenden, kleineren Familienbetrieben läuft fast noch wie vor hundert Jahren: Es gilt das Wort. Ich habe noch nie einen Vertrag unterzeichnet. Wenn ein Winzer nicht mehr mit mir arbeiten will, was soll ich ihn dann einklagen? Und gute Winzer empfehlen übrigens immer auch gerne andere gute Winzer. Nur schlechte Produzenten empfehlen niemanden.

Welche Weinregionen sind unterschätzt?

Das Land mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis ist zurzeit vermutlich Spanien. Der Inlandkonsum in Spanien halbierte sich innert kürzester Zeit, entsprechend unter Druck sind die Anbieter. Italien ist sehr gefragt, auch wenn dort viele schreckliche Weine existieren. Die Suche ist anspruchsvoll, aber man entdeckt immer wieder Perlen – unterschätzt sind beispielsweise die Abruzzen.

In Frankreich findet man hervorragende Languedoc, und auch die Rhône kommt massiv in Fahrt, wobei das Image – häufig zu Unrecht – nach wie vor bescheiden ist. Portugal holt auf, es ist aber schwieriger als in Spanien, hochstehende Weine zu selektionieren. In Österreich haben sich die Winzer leider zu schnell an den Erfolg gewöhnt, die Preise zu sehr erhöht und sich so selbst ein Bein gestellt. Tolle Rieslinge kann man für bescheidenes Geld in der deutschen Pfalz bekommen.

White ist the new red; Roséweine finden reissenden Absatz – in welche Richtung geht der Markt derzeit?

Der weltweite Absatz von Rosé hat sich in kurzer Zeit verfünffacht. In vielen Ländern ist Rosé total in, wobei die Schweiz bei diesem Boom nur sehr verhalten mitmacht. Die Frage, wohin der Weg geht, ist nicht einfach zu beantworten. Ich beobachte jedenfalls bei mir selbst, dass ich gerade mehr Weisswein trinke als früher, wobei der Weinhandel in der Schweiz nach wie vor deutlich mehr Rotwein absetzt; vielleicht weil immer noch viele Konsumenten in der Schweiz den Weisswein direkt beim Winzer kaufen. Generell erfolgt nach jedem Boom eine Gegenbewegung, weil die Leute sich wie der etwas Neues wünschen. Das heisst: Wer genug vom Rosé hat, wird wieder Rot oder Weiss favorisieren.

Das Schweizer Weinmarketing ist nicht gerade vorbildlich.

Ja, es gibt zu viele beharrende Protagonisten oder solche, die einfach nur profitieren wollen, jedoch nicht die Vision einer landesumspannenden Promotion vor Augen haben. Der Kantönligeist und der Neid untereinander verhindern leider im Moment einen grossen Wurf. Ich sähe Chancen im Export. Schade!

Gibt es für Sie einen magischen Wein?

Ich habe als Teenager meinem Vater einen 1964er Château Lafite Rothschild stibitzt. Lafite hat in jenem Jahr nach dem Regen geerntet, deshalb war ein Grossteil des Weines nicht umwerfend. Allerdings waren die Füllungen nicht homogen. Doch der Inhalt dieser Flasche war deliziös, ein faszinierender Wein, tiefgründig, subtil, mit einem Duft nach Rosen. Aufgrund dieses Tropfens habe ich begonnen, mich für Wein zu interessieren.

Was spielt sich in Ihrem Kopf ab, wenn Sie Wein degustieren?

Es strengt mich nicht an – im Gegenteil: Es entspannt mich. Ausserdem bin ich sehr schnell im Degustieren. Irgendwann habe ich festgestellt, dass ich beim Verkosten immer als Erster fertig bin. Ich könnte beispielsweise problemlos zwanzig Weine zum Frühstück probieren. Je mehr man verkostet, desto reichhaltiger wird die eigene «Bibliothek», desto besser können schliesslich die unterschiedlichen Weine eingestuft und bewertet werden.

Verfügen Sie über das absolute Weingedächtnis?

Nein. Ich habe ein gutes Gedächtnis, aber viel ist vom Kontext abhängig. Es gibt Menschen, die behaupten, ein absolutes Weingedächtnis zu haben. Allerdings ist mir in meiner 30-jährigen Weinkarriere noch nie einer begegnet. Es überrascht auch nicht: Der berühmte 1982er Pichon-Lalande schmeckt heute ganz anders als vor zwanzig Jahren. Ich glaube aber, dass ich überdurchschnittlich gut im Erkennen von Qualität bin.