56 Jahre Weinbau in Truttikon

56 Jahre Weinbau in Truttikon - von Waldemar Zahner

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Seit der letzten grossen Eiszeit sind ungefähr 10 000 Jahre vergangen. In dieser Zeit entwickelte sich der Mensch vom Jäger zum sesshaften Bauern. Seit 6000 Jahren erfreut er sich am Rebstock, pflegt ihn und hat entdeckt, dass seine Früchte, die Trauben, ein köstliches Getränk ergeben. Weit im Norden oben ist es dem Rebstock zu kalt, ganz im Süden unten zu heiss. Dazwischen, vor allem im angenehmen Klima des Mittelmeers, wurde er zu einer der wichtigsten vom Menschen gehegten Pflanzen. Weil es in den wachsenden Städten oft an sauberem Wasser fehlte, galt Wein, wie noch der berühmte Forscher Louis Pasteur vor 150 Jahren sagte, als das Gesündeste der Getränke. In der Schweiz waren die Südhänge vieler Höhenzüge vor allem an Seen und Flüssen mit Reben bepflanzt. Der Verkauf von Wein an die wachsende Stadtbevölkerung war die wichtigste Geldeinnahme der Bauernbevölkerung. Mit der im 19. Jahrhundert einsetzenden Industrialisierung verloren Rebe und Wein für viele Menschen die bisherige Bedeutung. Man war stolz auf den Fortschritt, auf hygienische Wasserversorgung. Wein war nur noch als Getränk für festliche Anlässe oder religiöse Handlungen unerlässlich. Im fortschrittlichen Amerika war Wein im Zuge des totalen Alkoholverbots (Prohibition, 1918 bis 1933) sogar gänzlich verboten. Auch in Europa gab es ähnliche, wenn auch weniger absolute Entwicklungen. Allerdings war diese Zeit ohnehin den schönen Dingen des Lebens nicht zugetan. Zwei weltweite Kriege verwüsteten viele Länder (1914-1918; 1939-1945) und brachten unendliches Leid in viele Familien. Man hatte keine Zeit für Reben und Wein. Man musste Kartoffeln pflanzen und Kanonen bauen. Die Schweiz entkam dem schrecklichen Völkermorden. Es fehlten zwar auch bei uns viele Dinge, aber ernsthaft Hunger litten wir nie. Die täglichen Brotrationen waren klein, aber Kartoffeln gab es immer genug. Während des ersten Jahrzehnts nach den schrecklichen Kriegen ging die Angst um, es würde bald zu einem dritten Waffengang kommen, diesmal zwischen Amerika und Russland. Mein damaliger Arbeitgeber, der Nahrungsmittelkonzern Nestlé mit Sitz am Genfersee verlangte, dass ich für meine Frau Suzanne und mich Visa für Portugal und Spanien besorge und vor Ablauf jeweils erneuere. Nach Ausbruch eines neuen Krieges sollten wir uns, so der Auftrag, in eines dieser Länder durchschlagen, wo man uns nach Südamerika weiterhelfen würde. Als so fragil wurde der Friede beurteilt. Zum Glück ist es nicht so weit gekommen. Langsam erholten sich die erschöpften Länder in den 1950er Jahren. Noch bemühte man sich nur um das Nötigste. Die Städte waren noch Jahre lang Trümmerfelder. Es fehlte die Kraft für die schönen Dinge des Lebens.

Ich lebte damals mit meiner bereits 5-köpfigen Familie seit einigen Jahren in Südamerika und leitete zu der Zeit 100 km südlich der Stadt La Plata in der argentinischen Pampa eine Nahrungsmittelfabrik des Nestlé-Konzerns, hatte aber meinen Jugendtraum nicht aufgegeben, einmal Landwirt auf eigenem Grund und Boden zu werden. Aber wo? Und wie? Die Arbeit für Nestlé hatte mich gelehrt, dass auch in der Landwirtschaft die Produktion von Rohmaterial (z.B. Kaffeebohnen) ein knapperes Geschäft ist als deren Verarbeitung (z.B. zu Nescafé). Gelingt es dann sogar noch, dem veredelten Produkt seinen eigenen Namen als Marke aufzudrucken, waren die Möglichkeiten, im Konkurrenzkampf zu bestehen, noch besser. Ich hatte in der argentinischen Pampa Zeit, mir das ganze Panoptikum der Möglichkeiten durch den Kopf gehen zu lassen. Meine Überlegungen endeten immer wieder beim Wein. Noch ein anderer ökonomischer Zusammenhang führte zum gleichen Ziel: Rebbau ist eine sehr intensive Kultur. Man produziert dabei auf wenig Boden etwas sehr Wertvolles. Meine finanziellen Mittel würden ohnehin beschränkt sein, sodass ich darauf angewiesen sein würde, auf wenig Land einen hohen Wert zu erschaffen.

Freunde und Berufskollegen in der Schweiz hielten mich über die weinbauliche Lage auf dem Laufenden, denn sie wussten von meinen Plänen. Der europäische Weinbau war durch die langen Kriege weitgehend zerstört. Zudem hatten in den Jahren 1956 und 1963 wochenlange Minustemperaturen von 20° bis 25°C in weiten Teilen Mitteleuropas die Rebenpflanzungen bis in die Wurzeln erfrieren lassen. Niemand glaubte mehr an Rebbau. Doch wir waren hier in Argentinien so weit weg vom Wellenschlag der Weltgeschichte und ihren Stimmungen, dass ich vom allgemeinen Pessimismus völlig unberührt blieb, sondern im Gegenteil die Chance sah, mit einem Landkauf in der fernen Heimat einen ersten Pfahl einzuschlagen. Man liess mir 3 Offerten zukommen: eine aus der Bündner Herrschaft, eine aus dem St. Galler Rheintal, die dritte aus Truttikon im mir fast unbekannten Zürcher Weinland. Diese dritte war die flächenmässig grösste und war mit keinerlei Gebäudeübernahmen und anderen Zusatzverpflichtungen belastet. Das gefiel mir. Der sich an einer eiszeitlichen Moräne hinziehende Rebhang umfasste 16 Einzelparzellen, die im Ganzen eine Fläche von 4 Hektaren bedeckten. Jeder Bauer des Dorfes hatte hier seine Rebenparzelle. Nach den kalten Wintern waren sie, weil erfroren, alle gerodet und nur zwei wieder neu angepflanzt worden.

Damals gab es an der Handelshochschule St. Gallen (heute Universität) zwei Professoren mit dem Namen Gasser. Sie waren Brüder. Einer befasste sich mit Industrie. Man nannte ihn den Industrie-Gasser im Unterschied zu seinem Bruder, dem Landwirtschafts-Gasser. An diesen schrieb ich um eine Beurteilung meines Problems. Er antwortete mir mit einer erstaunlich positiven Lagebeurteilung und nannte auch gleich die Preisspanne, in der sich ein Handel zur Zeit abspielen könnte: 2 bis 3 Franken pro Quadratmeter. Das ergäbe 120 000 Franken für die 4 Hektaren. Das lag im Rahmen unserer Möglichkeiten. Sollten wir es wagen?

Als ich in diesen Tagen einmal von meiner Fabrik zum Mittagessen heimwanderte (es waren 10 Minuten zu Fuss durch eine angenehme Parklandschaft), fand ich dort meine Frau Suzanne über die 50 000er Karte der Ostschweiz gebeugt: «Schau!» begrüsste sie mich, «der Rebberg, den wir kaufen können, ist eingezeichnet, und man sieht von dort aus den Säntis.» Das bezweifelte ich. Doch Suzanne, die erfahrene Pfadfinderin und Kartenleserin hatte das ganze Höhenprofil aufgezeichnet. Der Bleistiftstrich vom Truttiker Rebberg zum Gipfel des Säntis war nirgends unterbrochen. Damit war der Entscheid gefallen. Wir offerierten 3 Franken unter der Bedingung, dass alle 16 Verkäufer mitmachten. Die Post war langsam, Telefon oder Internet gab es noch nicht. Nach 5 Monaten kam die Zustimmung. Wir beauftragten meinen Vater, den Handel formell zu vollziehen. Die 16 Verkäufer sassen am abgemachten Tag im Notariat Stammheim auf einer langen Bank. Mein Vater zahlte jedem den ihm zustehenden Betrag in bar. Auch mein Schwiegervater Schelling schloss sich an. Es war ein Truttiker Dorf-Ereignis.

Wir waren nun Besitzer eines recht grossen Weinbergs, aber wir waren noch keine Weinbauern. Es dauerte noch zwei Jahre bis mich die Firma Nestlé an den Hauptsitz am Genfersee zurückrief und wir unseren neuen Besitz in Truttikon besichtigen und feststellen konnten, dass man von dort aus den Säntis tatsächlich sieht.

Zu meinem 4jährigen Studium an der E.T.H. Zürich, das ich als Agronom und Lebensmittel-Ingenieur (damals Agrotechnologe genannt) abgeschlossen und das mich zu meiner Tätigkeit bei Nestlé geführt hatte, gehörte auch ein Vorlesungskurs über Weinbau. Er wurde vom bis heute legendären Walliser Weinbauern und Agronomen Dr. Henry Wuilloud gegeben. Man war allgemein der Ansicht, es sei kein guter Kurs. In der Tat: Man erfuhr wenig über die Technik des Weinbaus. Aber man erfuhr aus kundigem Mund, dass die Rebe die älteste und edelste Kulturpflanze sei, eine eigentliche Göttergabe an den Menschen mit dem Auftrag, sie zu verehren und ins Zentrum aller kulturellen Aktivitäten zu stellen. Mit der Verehrung der Rebe bedanke man sich bei ihr für den Wein, den sie dem Menschen zur Lebensfreude schenke, undsoweiter. Ich gestehe heute als abtretender Weinbauer gerne, dass ich Wuilloud dankbar bin für den Funken, den er damals gezündet hat.

Vorerst war ich aber noch in Argentinien und entschloss mich zu einer 10tägigen Reise von 1000 km quer durch den Kontinent ins argentinische Weinbaugebiet von Mendoza am Fuss des Andengebirges. Ich traf dort auf riesige, sehr gepflegte Rebäcker, künstlich bewässert mit dem Wasser, das in wilden Flüssen aus den schneebedeckten Anden hervorbrach. Es war eine Weinwelt für sich, offensichtlich altmodisch, so wie die spanischen Conquistadoren sie vor 200 Jahren geschaffen hatten. Ich traf kleine Traubenproduzenten, man führte mich aber auch zum, wie man mir glaubhaft versicherte, grössten Weintank der Welt, bei dessen Einweihung im Tank drin ein Bankett mit 120 geladenen Gästen stattfand. Es gab zu jener Zeit noch keine Touristen. Ich war allein in eine selbstbewusste und selbstgenügsame altmodische Welt geraten und war von ihr fasziniert. Erst 30 Jahre später strömte das Internationale Grosskapital auch nach Mendoza, wie ich bei einem Besuch in späteren Jahren feststellte. Die Reise nach Mendoza hatte mir sozusagen die geschichtliche Dimension des Weinbaus vor Augen geführt. Für meinen eigenen Einstieg in Truttikon würde ich mich aber von jüngeren europäischen, vor allem aber von ganz lokalen Erfahrungen leiten lassen müssen, um das Risiko des Scheiterns, das man mir ohnehin prognostizieren würde, klein zu halten. Wo konnte ich mir ein Minimum an Wissen über die Verarbeitung von Trauben zu Wein holen? Die Berufsbezeichnung «Önologe» war noch unbekannt. Der starke Mann im Weinkeller war der Küfer. Er baute und pflegte Holzfässer, in die der Weinbauer, den man damals auch Winzer zu nennen begann, seine Ernte schüttete. Alles Weitere besorgten dann die Hefezellen selbst, indem sie den Zucker der Trauben in Alkohol verwandelten. Je nach Reifezustand der Trauben gelang das den Hefezellen mehr oder weniger gut. Die dabei von Jahr zu Jahr auftretenden Geschmacksunterschiede im Wein akzeptierte man als gottgegeben und sprach von guten und weniger guten Jahrgängen.

1962 ging meine gute Zeit in Argentinien zu Ende. Man wollte mich am Hauptsitz der Firma Nestlé zurückhaben, wo neue Verantwortung auf mich wartete. Suzanne und ich hatten jedoch unseren Lebensplan gemacht. Im November1963 bat ich meinen damaligen Chef Dr. Carl Angst um meine Entlassung per Ende März des nächsten Jahres (1964), weil ich mich für ein Leben als selbständiger Weinbauer entschieden hätte. Er war betrübt, denn er hatte mich gefördert, und ich musste ihn nun enttäuschen. Es gelang ihm nicht, meinen Entschluss umzustossen. Auch seine Gespräche mit meiner Frau Suzanne blieben erfolglos. Wir sind trotzdem Freunde geblieben. Wie der Leser der nächsten Seiten erfahren wird, führten unsere Wege nur 5 Jahre später uns wieder in mancher Hinsicht zusammen.

Kurze Zeit bevor ich die Firma Nestlé verliess, nahm ich mir noch eine Woche Ferien, um an einem 4tägigen Kurs der damaligen Obst- und Weinfachschule Wädenswil teilzunehmen, der damals zum ersten Mal stattfand und der einer Handvoll Teilnehmer die wichtigsten Kenntnisse über die Kelterung von Trauben zu Wein und dessen Abfüllung in Flaschen vermitteln sollte. Hauptreferent war ein Agronom, Dr. Eggenberger, der offenbar erkannt hatte, dass das alte Handwerk des Küfers dringend einer naturwissenschaftlichen Aufwertung und Ergänzung bedurfte. Ich habe von seinen Ausführungen sehr profitiert und fühlte mich damit, zusammen mit meinen eigenen Vorkenntnissen als Lebensmittelingenieur, den künftigen Anforderungen im Weinkeller wenigstens nicht schutzlos ausgeliefert.

Am 1. April 1964 zogen wir in Truttikon ins inzwischen mitten im Rebberg und mit Blick auf den Säntis erbaute Wohnhaus mit Ökonomieteil und Weinkeller ein. Wir waren jetzt zu sechst. Am Genfersee war unser viertes Kind Niklaus zur Welt gekommen.

Unser Rebberg war zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr zur Gänze gerodet und verlassen.  Einer der 16 Verkäufer, der sich bei uns gemeldet hatte, war in unsern Dienst getreten und hatte bereits 1961 eine Hektare Reben neu angepflanzt unter der kundigen Leitung des Rebmeisters der Landwirtschaftlichen Schule Wülflingen, Walter Büchli, den ich als Berater und Organisator gegen ein bescheidenes Honorar verpflichtet hatte. Wir konnten also hoffen, schon im Herbst unseres ersten Rebjahrs, 1964, eine kleine Ernte einzufahren. Jetzt, im Frühling, versanken wir allerdings zunächst bis über die Ohren in der strengen körperlichen Arbeit, die sich zum guten Teil auf den Knien abspielte, denn es galt, in langen Reihen weitere 9000 Rebsetzlinge zu pflanzen, jede einzelne Pflanze sorgfältig von Hand. Alles war neu und ungewohnt. Wir stürzten uns todesmutig in eine lange Lehrzeit, der zu unterziehen wir uns entschlossen hatten. Die Lehrmethode kennen alle, die Ähnliches durchgestanden haben. Sie heisst «Learning by doing», sich ja nicht eingestehen, dass man ungeschickt ist, dass man laufend kleine und manchmal auch grosse Fehler macht. Mit einer gewissen Frechheit einfach zupacken und schauen, was dabei herauskommt. Es gab zu der Zeit kaum noch bzw. noch lange keine Fachleute in der Sache. Der alte Rebbau lag im Sterben. Höchstens einige ältere Frauen aus den Reihen der früheren Rebbesitzer wussten noch Bescheid über Anbinden und Aufheften der Weinstöcke. Ihnen habe ich manchen Handgriff abgeguckt und später als meine eigene Erfindung weitererklärt. Sie arbeiteten noch jahrelang gern in unsern Reben. Den heute als «Winzer» bezeichneten Beruf haben wir erst 20 Jahre später geschaffen. Wir standen am Beginn des modernen Rebbaus. Es war eine faszinierende Pionierzeit. Der neue Rebbau war wenig Tradition, aber viel angewandte Naturwissenschaft. Erst Jahrzehnte später griffen wir auch wieder auf Tradition zurück. An die anstrengenden ersten Jahre denke ich gerne zurück. Man sank jeden Abend todmüde ins Bett und schlief sofort ein.

Die erste Traubenernte rückte erschreckend schnell näher. Ich hatte mich schon lange mit den nötigen Kellereimaschinen befasst: Unentbehrlich war eine Traubenmühle zum Zerquetschen der Beeren und eine Presse zum Auspressen des Saftes. Ich wurde fündig beim Genfer Landmaschinenhändler Rivollet, der die Vertretung der französischen Traubenpressen «Vaslin» innehatte. Er lieferte sie fristgerecht. Es war das erste in die Schweiz verkaufte halbautomatische Modell «Vaslin Veritas». Es tat seinen Dienst bei uns 38 Jahre lang.

Es gibt bisweilen Wunder, die man einfach dankbar entgegennehmen soll. Ein solches Wunder war der Sommer 1964, unser erster Rebensommer. Soviel Sonne und Wärme hatte man seit dem legendären Sommer 1947 nicht mehr erlebt. Unsere erste, zwar noch kleine Ernte (15 000 Flaschen) reifte ohne angefaulte Beeren kerngesund heran und war am 10. Oktober vollreif. Es war unmöglich, daraus nicht einen guten Wein zu keltern. Ich machte das Beste aus meinen mageren Kenntnissen, und der Wein machte sich dann einfach selbst. Bereits im nächsten Jahr, 1965, tat er das nicht mehr. Das war dann das schlechteste meiner Karriere. Da mussten wir die kaum reifen Trauben am 3. November bei Schnee von den Rebstöcken schneiden.

Doch zurück zum prächtigen Jahrgang 1964, der unsern Eintritt in den Markt gewaltig erleichterte. Unser Auftritt in der Weinszene war natürlich nicht unbemerkt geblieben. Kaum lag die Ernte in flüssiger Form in den grossen Holzfässern, kamen erste Neugierige. Die erste Flaschenfüllung machten wir im April. Die Etikette hatte uns der mit meiner Frau befreundete Basler Architekt und Künstler Alfred Burckhardt gezeichnet. Mein Sohn und Nachfolger Niklaus benützt sie noch immer. Ich nahm dann eines schönen Frühlingstags einige Flaschen Truttiker rot und einige Truttiker weiss in eine Reisetasche und fuhr mit der Bahn nach Zürich. Der Hotelier am Bahnhofplatz hörte mir freundlich zu, musste mir aber sagen, dass er mir nichts abkaufen könne. Denn sein Hotel gehöre der Brauerei Hürlimann. Sein Pachtvertrag verpflichte ihn, deren italienische Weine zu verkaufen. Ich solle jedoch die Bahnhofstrasse hinaufwandern, ich würde schon einen interessierten Gastwirt finden. Ich tat so und betrat das Hotel Savoy Baur-en-ville am Paradeplatz. An der Theke stand ein weisshaariger Herr in dunklem Anzug. Er schien mir nicht der Concierge zu sein. Es war Ferdinand Michel selbst, Hotelier und Besitzer. Ich erklärte ihm den Zweck meines Besuchs. Er hörte zu und sagte: «Gut. Schicken sie 60 Weiss und 60 Rot». Ich stotterte und wollte ihm Muster zum Probieren geben. Er hielt das nicht für nötig. Er blieb ein wichtiger Kunde bis zu seinem Tod. Das zeigt, in welch aufnahmebereiten, ausgetrockneten Weinmarkt zu fallen ich das Glück hatte.

Unsere Familie hatte sich im kleinen Dorf (460 Einwohner) gut eingelebt. Meine Frau Suzanne, von Beruf Kindergärtnerin, hielt es jedoch für einen Mangel, dass das Dorf über keinen Kindergarten verfügte, besonders auch mit Blick auf die eigenen Kinder und deren soziale Eingliederung. Denn wir wohnten ja nicht im Dorf, sondern einen halben Kilometer ausserhalb, im Rebberg. Sie richtete kurzentschlossen in unserem Haus einen eigenen, privaten, unentgeltlichen Kindergarten ein, zu dem jeweils Montag, Mittwoch und Freitag die Dorfkinder der betreffenden Altersklasse vollzählig erschienen. Es waren immer über ein Dutzend. Die Väter der Kinder revanchierten sich, indem jeder mindestens einen ganzen Tag zur Arbeit in unserem Rebberg erschien.

Es ergab sich 1968 die Gelegenheit, nochmals 2 Hektaren Land an günstiger Lage zu vernünftigem Preis zu kaufen. Allerdings glaubten wir, fürs Erste nun tief genug in den Weinbauproblemen zu stecken und suchten nach einer anderen Verwendung. Die Statistik der Eidgenössischen Zollverwaltung zeigte, dass alle vermarkteten Baumnüsse aus dem Ausland, vor allem aus Kalifornien kamen. Suzanne brachte sogar aus unserm kleinen Dorfladen eine Plastiktüte nach Hause mit der Aufschrift «The Diamond Walnut Corporation, Modesto, California». Die Wirkung blieb nicht aus. Ich spürte ohnehin ein Bedürfnis, mir und  meinen alten Freunden bei Nestlé zu zeigen, dass man auch als Weinbauer in Truttikon  mit der Welt in Verbindung stehen konnte. Ich kaufte ein Flugbillett nach San Francisco. Zwei Tage vor dem Abflug rief mich Dr. Carl Angst aus Vevey an: «Du wirst ja hoffentlich nicht nur Nussbäume anschauen wollen in Kalifornien. Schau überhaupt herum und teile uns dann Deine Eindrücke mit». Ich flog mit leichtem Handgepäck ab.

Hier will ich meiner Frau Suzanne einmal ein Kränzchen winden: Nie, aber auch gar nie versuchte sie, mich von einer Initiative abzuhalten. Im Gegenteil: Sie konnte sich mitfreuen an den Herausforderungen. Solange unsere Kinder noch Kinder waren, amtete sie während meinen nicht ganz seltenen Abwesenheiten frohgemut als Stellvertretende Betriebsleiterin. Sie war mutig und belastbar.

Waldemar-Zahner-1979

1979

Der San Francisco Airport war zu der Zeit noch gar nicht überlaufen. Die Menschenklasse «Touristen» existierte noch nicht. Ich mietete ein Auto für 5 Dollar pro Tag und fragte den Vermieter nach dem Weg nach Modesto. «Über die nächste Bergkette», war die Antwort. Modesto liegt 150 km von San Francisco im Central Valley. Von der Stadt sah man nichts, denn sie war versteckt unter und hinter einem Wald von riesigen Nussbäumen, die die ganze breite Talsohle bedeckten. Ich fand dann tatsächlich grosse Holzbauten mit der Aufschrift «Diamond Walnut Corporation» und erhielt die Erlaubnis, die Anlage zu besichtigen. Es war Spätherbst, und es herrschte Hochbetrieb. Die Nusspflanzer der Gegend brachten ihre Ernte, damit die Nüsse hier gewaschen, getrocknet, nach Grösse sortiert und verpackt würden. Das war interessant für mich. Aber ich wollte ja in erster Linie einen Nusspflanzer treffen. Man gab mir bereitwillig die Adresse eines Mr. Johnes. Ich fand sein kleines Haus tief versteckt im Nusswald. Er war nicht zu Hause. Ich steckte einen Zettel an die Haustüre: «I’m a young Swiss farmer. Would like to learn about walnuts. Come back tomorrow 09.00». Er stand anderntags um 9 Uhr bereit und hatte den ganzen Tag Zeit für mich. Ich schaute und fragte und sog alles wie ein Schwamm in mich hinein. Erst am Abend im bescheidenen Hotel fand ich Zeit, meine Notizen zu ordnen. Um Mitternacht legte ich mein Nuss-Heft befriedigt zur Seite. Mr. Johnes empfing mich auch in späteren Jahren verschiedene Male. Der Kontakt mit diesem erfahrenen Nuss-Bauern und Unternehmer war mir wertvoll, war aber nur mündlich möglich. Er lebte in finanziell sehr komfortablen Verhältnissen, erklärte sich aber ausserstande, mit mir schriftlich zu verkehren. Das war für mich ein interessanter Einblick in die sozialen Verhältnisse und den Stellenwert von Schreiben und Lesen für die Pioniere im Wilden Westen.

Die folgenden paar Tage hatte ich für Davis reserviert, die damals renommierte Universitätsstadt mit verschiedenen berühmten landwirtschaftlichen Instituten. Die Universität Davis war sehr verschieden von meinen aus Europa mitgebrachten universitären Vorstellungen, und zwar schon in der räumlichen Anlage. In einem weitläufigen, von grossen Baumgruppen gegliederten Gelände lagen, grosszügig verteilt, scheinbar ganz zufällig hingeworfene Institutsgebäude verschiedenster Grösse und Bauart, die, scheinbar unabhängig voneinander, ihr Eigenleben pflegten. Natürlich musste die als «Campus» bezeichnete Ansammlung doch einen organisatorischen Rahmen haben. Doch davon merkte man nichts.  Ich fragte mich zum Weinbau-Institut durch und fand dort den derzeitigen Doyen des aufkeimenden kalifornischen Weinbaus, Prof. Albert J. Winkler, in seinem letzten Amtsjahr als Institutschef. Von deutschen Eltern in Texas geboren sprach er sein ganzes Leben lang perfekt deutsch. Ich erklärte ihm, dass ich daran sei, mein eigenes Weingut in der Schweiz aufzubauen und nun sehen möchte, was sich in Kalifornien in Sachen Weinbau tue. «Sie müssen zu Joe Heitz im Napa Valley gehen. Der ist einer wie Sie», sagte er in überzeugendem Ton und entliess mich.

Mit Zwischenhalt im völlig touristenfreien San Francisco erreichte ich zwei Tage später das Napa Valley. An der Hauptstrasse durchs Tal hinauf sass in St. Helena eine junge Frau in einem Degustationsstand von 3x3 m am Strassenrand und wartete auf spärliche Kundschaft. Sie tat es für Joe Heitz und wies mir den kurzen Weg zu ihm. Er hatte in St. Helena im gleichen Jahr wie ich in Truttikon ein Stück Rebland gekauft, nur halb so viel wie mein Grundstück in Truttikon. Jeder spielte vor dem andern die Rolle des Zuversichtlichen. Wir haben beide tatsächlich überlebt. Joe Heitz starb im Jahr 2000. Er war 10 Jahre älter als ich. Wie es sich für Amerika gehört, ist die Heitz Winery heute viel grösser als unser Truttiker Familien-Weinbau.

Auf dem Weg durchs Napa Valley hatte mich allerdings ein anderer Bau völlig in Beschlag genommen. Es war die soeben eröffnete Kellerei Mondavi in Oakville. Dieser Bau war architektonisch Ausdruck eines neuen Lebensgefühls. In den 1960er Jahren hatte sich Amerika langsam von dem Trauma der Weltkriege erholt. Die Siegernation, reich und selbstbewusst, fragte sich: «Warum sind wir als wohlhabendes Land nicht imstande, ein schöneres, ein angenehmeres Leben zu führen? Warum haben wir nur mittelmässige Weine, obwohl Kalifornien mit einem Klima für beste Weine gesegnet ist?» Jetzt war die Sternstunde von Robert Mondavi gekommen. Er verliess das Familienunternehmen seiner italienischstämmigen Vorfahren, gründete 1966 seine eigene Firma und konnte bereits 1968 in Oakville im Napa Valley in seiner bald berühmt werdenden, einer spanisch-südamerikanischen Missionsstation nachempfundenen Kellerei den ersten Jahrgang keltern. Ich spürte mit allen meinen Sinnen, dass sich hier etwas Neues, Grosses anbahnte, dass dies der Startpunkt einer Entwicklung sein könnte, die die Weinwelt verändern würde. Ich spazierte durch alle Räume der neuen, erst provisorisch eröffneten Kellerei. Man merkte, dass hier eine Vision verwirklicht wurde. Alles passte zusammen: Der einfache, klassische Bau aus edlen Materialien; die vielen Eichenfässer von je etwa 1500 bis 2500 Litern Inhalt, die unter den Vordächern darauf warteten, an ihren definitiven Platz gestellt zu werden; das fast vollständige Fehlen des andernorts omnipräsenten rostfreien Stahls; die Bergsilhouette zu beiden Seiten des Tales; das schöne Spätherbstwetter, das der Atmosphäre eine Transparenz gab, wie man sie im Engadin oder in der Provence findet. Ich brauchte keine Notizen zu machen. Ich hatte mir alles eingeprägt. Ein paar Fotos genügten. Das Napa Valley würde weltweit zum Hotspot einer neuen Weinbauära werden.

Ich unterbrach die Flugreise zurück in die Schweiz noch 3 Tage in Bilbao, um von dort aus das andere U.S.-Weinbaugebiet zu besuchen, die im Norden des Staates New York gelegene Gegend um den Lake of Geneva, die sich damals noch als ernsthafter Rivale von Kalifornien verstand. Diese Rivalität hat sich im Laufe der nächsten 30 Jahre vollständig zu Gunsten von Kalifornien erledigt. Es wird dort aber immer noch Weinbau betrieben.

In Truttikon war es inzwischen Winter geworden. Der Weinverkauf ruhte, denn wir waren längst ausverkauft. Von der Ernte des vergangenen Herbstes lagen die Weissweine in den Beton-Tanks, die Rotweine in grossen Holzfässern. Die Gärhefen hatten den Zucker längst zu Alkohol umgebaut. Jetzt waren die Bakterien an der Arbeit, die den in jenen kühlen Jahren hohen Säuregehalt der Weine auf das dem menschlichen Gaumen angenehme Niveau reduzierten. Unsere ganze Weintechnologie war noch sehr einfach. Aber vielleicht gefielen gerade deshalb unsere Weine einem wachsenden Publikum, das von Jahr zu Jahr unsere Entwicklung mitverfolgte und jeden Frühling voll Spannung und Neugierde auf den neuen Jahrgang wartete.

Meinen Freunden bei Nestlé schickte ich einen kurzen, aber deutlichen Bericht über meine Beobachtungen und fasste folgendermassen zusammen:

Es ist ein Grundsatz von Nestlé, landwirtschaftliche Rohstoffe nicht selbst zu produzieren, sondern sie zu kaufen und zu veredeln und damit Geld zu verdienen. Sollte Nestlé daran denken, zum jetzigen, vielversprechenden Zeitpunkt ins Weingeschäft einzusteigen, so müsste man von diesem Grundsatz abweichen. Trauben werden knapp und teuer sein. Wer über eigene Trauben verfügt, wird gute Geschäfte machen.

Im Juni des folgenden Jahres bat mich Nestlé, zu einer Besichtigungstour nach Kalifornien zu fliegen. Ich traf erst gegen Mitternacht im Hotel in San Francisco ein und traf den damaligen U.S.-Marktchef Gogniat am folgenden Morgen beim Frühstück. Während 4 Tagen besichtigten wir einige Weinkellereien. Wir wurden überall zuvorkommend empfangen. Bei weitem die grösste war die Winery Beringer in St. Helena. Ihr Grundbesitz umfasste 800 Hektaren Rebenpflanzungen und ein spektakuläres System von aus dem anstehenden, weichen Fels gebrochenen Tunnels, die als Lagerraum für lange Reihen von Holzfässern dienten. In der Gebäudefront davor lagerten grosse Weinmengen in riesigen Bottichen aus Redwood. Moderne Anlagen aus rostfreiem Stahl fehlten. Alles war interessant, spannend. Man glaubte, in der Atmosphäre ein heimliches Knistern zu hören, das durch höfliche, nichtssagende Gespräche verdeckt wurde. Der Kauf der ältesten und grössten Weinfirma im Napa Valley war damit beschlosen. Die Transaktion wurde in den nächsten Wochen von den Advokaten formell vollzogen.

Der Leser wird sich fragen, ob ich, der ich selbst noch in der Lernphase steckte, in diesem grossen Geschäft nicht fehl am Platze war. Das Sprichwort «Unter Blinden ist der Einäugige König» gibt eine zutreffende, wenn auch saloppe Antwort auf diese Frage. In der Nestlé-Konzernleitung gibt es eine Stabsabteilung, die sich mit der Erschliessung neuer Geschäftsfelder befasst. Dort hatte man sicherlich Wind bekommen vom sich anbahnenden kalifornischen Wein-Boom. Als dann mein begeisterter Bericht eintraf, scheinen die Würfel sehr schnell gefallen zu sein. Man holte Informationen über die wichtigsten Firmen der Branche und ihre Besitzer ein, war dann aber froh um mich für die direkten Kontakte. Ich wusste, wie die Uhren bei Nestlé liefen, genoss das Vertrauen meiner Auftraggeber, hatte aber inzwischen als Unternehmer im Weinbau genug Erfahrung erworben, um die mir zugedacht bescheidene Rolle im grossen Spiel zu spielen. Wir vereinbarten, dass ich in Zukunft mindestens ein Mal jährlich, vorzugsweise im September, zu einem zweiwöchigen Besuch nach St. Helena fliegen würde, um die Modernisierung der Firma Beringer und ihre Integration in den Nestlé-Konzern «zu begleiten» (was immer auch damit gemeint sein sollte).

Ich packte diese Chance mit beiden Händen. Ich erhielt damit Zugang zu der sich unter Führung des Napa Valley Wine-Clusters rasch entwickelnden und über die halbe Welt ausbreitenden modernen Weinkultur. Wie Pilze nach einem warmen Regem wuchsen im Napa Valley und bald auch schon im angrenzenden Sonoma County Weinkellereien aus dem Boden. Während den nächsten 30 Jahren waren im Napa Valley so viele gescheite, originelle, innovative Winemaker am Werk, wie nirgends sonst auf der Welt. Chemiker, Physiker, Unternehmer, die an der Ostküste ihre Fabriken verkauft hatten, zogen hierher und befeuerten sich gegenseitig. Es war eine Freude, dabei zu sein, auch wenn es nur als Berater war.

Warum verkaufte die Familie Beringer in dieser Zeit des weinbaulichen Aufbruchs? Die Familie war nicht ohne Nachwuchs. Ein Schwiegersohn, Roy Raymond Sr., hatte die Funktion des Betriebsleiters inne. Er und einer seiner zwei Söhne, Roy Jr., Chef über die 800 Hektaren Reben, waren beide bereit, unter neuen Besitzern ihre Funktionen weiter auszuüben, was auch in den Kaufverträgen so geregelt war. Der Grund für den Verkaufsentscheid war die beim Generationenwechsel fällige, hohe Erbschaftssteuer, für welche die Familie Beringer nicht genug Cash in der Kasse hatte. Die beiden Arbeitsverträge der Herren Raymond mit Nestlé wurden erst nach einigen Jahren aufgelöst, als Roy Raymond und seine zwei Söhne aus ihrem Erbteil Land für Reben und eine neue Kellerei gekauft hatten. Sie waren mir dankbar für meine Mitwirkung beim Verkauf des Beringer Besitzes. Ihre eigene, brandneue Raymond-Winery war bloss 15 Jahre später bereits wieder einer der führenden Weinproduzenten im Valley. Mein Sohn und Nachfolger Niklaus machte dort 1987 während eines halben Jahres seine ersten weinbaulichen und kellertechnischen Erfahrungen in der neuen Welt.

Waldemar-Zahner-1983

1983

Was war denn auf einmal neu an den Napa Valley-Weinen? Worin bestand der Neubeginn? Erst die Kriegszeiten mit Millionen amerikanischen Soldaten in Übersee, die dann als glückliche Sieger heimkehrten, hatten den Amerikanern vor Augen geführt, wie vielfältig die Welt ist, die sie nun beherrschten. Sie machten sich jetzt auf, diese Welt zu entdecken, auch die vielfältige Weinwelt. Welches waren die besten, die am höchsten geschätzten, die teuersten Weine weltweit? Die Spur führte nach Bordeaux. Mit Staunen stellten sie fest, dass man dort Weine mit leichtem Eichenholz-Geschmack schätzte. Diese Weine waren haltbar und wurden noch nach Jahren zu guten Preisen weiterverkauft. Man fragte nach der Herkunft dieses diskreten Holzgeschmacks und entdeckte die grossartige, in den renommierten Schlössern des Bordelais trotz Krisenzeiten stets gepflegten französischen Weintechnologie und Weinkultur und brachte das Beste davon nach Kalifornien. Frankreich, vor allem Bordeaux mit seinem zarten Eichenholzgeschmack, wurde zum erstrebenswerten Ziel, das schnell erreicht und dann sogar übertroffen wurde. Bald schnitten die Weine von Robert Mondavi an französischen Weindegustationen besser ab als die französischen Originale. Man war auf dem richtigen Weg! Die Welt staunte, auch die Schweiz. Wir holten in Frankreich 1982 ein erstes Fuder von 16 Eichen-Barriques nach Truttikon und liessen uns von unsern Kunden auf die Schultern klopfen: «Bravo! Eichengeschmack, fast wie aus dem Napa Valley». Der eichenholzbetonte Rotwein aus Cabernet-Sauvignon-Trauben trat unter Napas Führung seinen Siegeszug um die Welt an. Überall begannen geschickte Winemaker zu experimentieren. Der Holzton erleichterte es dem interessierten Laien, moderne Weine von altmodischen zu unterscheiden. Er fand das spannend und machte mit. Die Winemaker experimentierten mit Variationen (mehr oder weniger Holzton) oder verwendeten botanisch verschiedene Eichenarten (europäische oder amerikanische Eiche). Der Konsument entwickelte sich zum Kenner, das Publikum war weltweit lernbegierig. Man schaukelte sich gegenseitig hoch. Es war ein fröhliches, faszinierendes Spiel. Robert Mondavi hatte damit dem Napa Valley für 25 Jahre die Rotwein-Führung verschafft. Er war ein begnadeter Kommunikator, der rund um die Welt persönlich auftrat und die neue Welle vorstellte. Seine Frau Margrit sorgte für das kulturelle Umfeld. Sie war (ich erwähne es mit leisem Stolz) Appenzellerin, geborene Kellenberger, von Walzenhausen. Sie überlebte ihren Mann um 8 Jahre. Ich traf sie zum letzten Mal 2015.

Bis in die späten 1980er Jahre gab das Napa Valley in Sachen Grosse Rotweine aus Cabernet Sauvignon weiterhin den Ton an. Ich freute mich jedes Jahr auf die Reise dorthin. Natürlich hatte sich die finanzstarke neue Beringer-Besitzerin Nestlé sehr schnell eine kompetente Führungsmannschaft verpflichtet. Auch war im Personal der Firma Beringer selbst eine solide Basis an alter Handwerkskunst vorhanden, insbesondere solange die beiden Herren Roy Raymond Vater und Sohn noch da waren. Meine eigene Rolle als Berater spielte ich zurückhaltend und rapportierte meinen Auftraggebern ausführlich mündlich, eher sparsam schriftlich. Offenbar war damit beiden Teilen gedient. Es ist eine Eigenheit jedes Beratungsverhältnisses, dass der Berater davon mindestens so sehr profitiert wie der Beratene. Ich hatte als kleiner Schweizer Wein-Unternehmer die Chance, bei meinen jährlichen Besuchen im Napa Valley mit vielen mutigen Mitspielern und Konkurrenten regelmässig in Kontakt zu stehen und die Erfolge ihrer Bemühungen um den «besten Wein» mit ihnen zu teilen. Das hat mich für unseren eigenen Betrieb immer wieder auf bessere Ideen gebracht. Wir wussten tatsächlich in jenen Jahren in Truttikon immer sehr genau, was in der Weinwelt passiert, was möglich ist und wovon man besser die Finger lässt.

Es sei immerhin doch noch erwähnt, dass unser Betrieb in Truttikon zu dieser Zeit immer noch in der Aufbauphase war und dass deshalb bei uns stets leichter Geldmangel herrschte. Ich war in finanzieller Hinsicht konservativ. Mit Weinbau geht man ein Natur-Risiko (Wetter u.a.) und ein Marktrisiko ein. Da darf man sich nicht zusätzlich noch finanzielle Risiken (Schulden) aufbürden. Die Beratungshonorare waren deshalb immer sehr willkommen. Nach 6 Jahren war die Beringer Winery gut ins Nestlé-Mutterhaus integriert. Auch gab es nun bei Nestlé immer mehr Leute, die Kenntnisse über das Weingeschäft erworben hatten. Man konnte auf meine Dienste verzichten. Meine alten, freundschaftlichen Kontakte blieben bestehen.

Mein Sohn und Nachfolger Niklaus hatte, wie ich selbst, an der ETH in Zürich als Agronom abgeschlossen. Nach einem längeren Arbeitsaufenthalt im Piemont bestritt er, wie oben bereits erwähnt, 1987 eine Saison in der noch jungen Raymond Winery im Napa Valley und sammelte im folgenden Jahr 1988 eine Saison lang weitere Berufserfahrung  in Australien im soeben berühmt gewordenen Weinbaugebiet des Barossa Valley. Er war weltweit gut vernetzt. Wir wurden zu einer 2Generationenfirma. Das ist bekanntlich sozial anspruchsvoll. Meine Frau und ich zogen vom Haus im Rebberg ins Dorf. Niklaus zog mit seiner heranwachsenden Familie vom Dorf in den Rebberg. Der Betrieb setzte zu einem Wachstumsschub an. Die mit Reben bepflanzte Fläche verdoppelte sich. Das önologische Management unseres Kellers ging an Niklaus über. Seine junge Nase war den auf uns zukommenden neuen Herausforderungen besser gewachsen. Er verfügte über die neuesten önologischen Forschungsergebnisse und kannte die vorhandenen Methoden und Werkzeuge zur Steuerung der Weinqualität.

Was ging am Weinmarkt vor sich? In den späten 1980er Jahren begann die Lust auf Holzgeschmack im Wein langsam abzunehmen. Ab 1990 begann der Markt nach leichteren Weinen zu verlangen. Ihr Geschmack sollte fruchtiger sein, sollte an Trauben, nicht an Holz erinnern. Hohe Alkoholgehalte störten dabei. Die Traubensorte Cabernet Sauvignon musste ihre Führerschaft an den Pinot noir abtreten, der in dieser Beziehung mehr verspricht, dem es indessen in Kalifornien zu warm ist. Die Elite der Weinbauern verliess deshalb Kalifornien in nördlicher Richtung, kaufte Land in Oregon, das für die nächsten 30 Jahre unter dem Stichwort «cool climat wine» zum weltweiten Pinot noir Hotspot wurde. In den 1990er Jahren trafen sich dort in der sogenannten «Steamboat-Conference» die führenden Pinot noir-Produzenten aus der ganzen Welt jährlich zu einem zweiwöchigen Meeting, bei dem schonungslos über die besten Kelter- und Kellermethoden, aber auch über die für die anspruchsvolle Traubensorte Pinot noir besten Kulturmethoden im Rebberg gerungen wurde. Niklaus sicherte sich einen ständigen Sitz in diesem auf 60 Köpfe beschränkten Gremium. Als er 2001 an der Teilnahme verhindert war, durfte ich ihn aushilfsweise vertreten und erlebte die prickelnde geistige Atmosphäre, die herrscht, wenn ein paar Dutzend Hochmotivierte sich in amerikanischer Offenheit ihre Geheimnisse mitteilen und die zugehörigen Weine degustieren und schonungslos kritisieren. Ich war erstaunt, wie in dieser unkonventionellen Atmosphäre in einem wilden Bergtal in Oregon sogar schweigsame französische Weingutsbesitzer gesprächig wurden und ihre Geheimnisse preisgaben. Die heisse Phase dauerte auch dieses Mal etwa 20 Jahre (bis 2010). Dann war auch beim Pinot noir der grösste Sturm fürs erste vorbei.

Der mutige Sprung von Kalifornien nach Oregon hatte zum erfolgreichen fruchtbetonten Pinot noir geführt. Es lag auf der Hand, dass man den Erfolg mit einem weiteren Schritt nach Norden, nach Washingon State, wiederholen wollte. Tatsächlich hat sich dort in den letzten 20 Jahren aus dem nichts ein neues Weinbaugebiet entwickelt mit heute ungefähr 900 neuen Kellereien verschiedenster Grösse und einer Rebfläche von 20 000 Hektaren (Schweiz 14 000 Hektaren). Aber ich vermute, dass das erhoffte Wunder «je nördlicher, desto besser» doch nicht stattgefunden hat. Auch ein neuer Weintyp ist ausgeblieben. Die Weinregion leidet an sehr tiefen Wintertemperaturen. In manchen Jahren können die Rebenpflanzungen nur mit sehr grossem Aufwand und entsprechenden Kosten vor dem winterlichen Kältetod gerettet werden.

Wie geht es weiter? In allen Weinbaugebieten der Welt liegen gut ausgebildete Winemaker, Weintechniker, Önologen auf der Lauer, bereit, in den Wettbewerb um den besten Wein einzusteigen. Der Weinbau hat dabei das Glück, nicht durch den Kampf für die weltweite Nahrungsbeschaffung und damit auch nicht durch weltweite Ernährungskonzepte mit entsprechenden staatlichen Zwängen (z.B. Forderung nach weniger Fleisch) belastet zu sein. Der Weinbau hat das Privileg, nur Freude, Genuss und soziales Wohlbefinden versprechen zu müssen.  Das gibt uns eine grosse Freiheit und schützt uns vor ungerufener Förderung und ungeliebter Beschränkung. Unser Wunsch ist, dass man uns in Ruhe den besten Wein produzieren lässt, der der grösstmöglichen Zahl von Menschen zu gefallen und Freude zu bereiten vermag.

Wo liegt in diesem friedlichen Wettstreit die Ostschweiz? Die Klimaerwärmung hat einiges verschoben.  Die Ostschweiz ist ganz sachte und unbemerkt in die für sehr gute Pinot noir-Weine ideale Klimazone hineingerutscht. Auf einmal ist sehr vieles möglich geworden. Vor 50 Jahren sagte der legendäre Mondavi mit einem Seitenblick auf die Malerei: «Guten Wein zu machen, ist Handwerk. Einen grossen Wein zu machen, ist Kunst». Bisher sahen wir uns in der Ostschweiz als Flachmaler. Unterdessen ist auch hier die Kunst in den Bereich des Möglichen gerückt.

Dezember 2020