Schwanders Epfehlung: Bordeaux 2010, NZZ am Sonntag, 1. Mai 2011

TEXT PHILIPP SCHWANDER

Die Vorschusslorbeeren waren einmal mehr überschwänglich: Noch besser als der Jahrhundertjahrgang 2009 sei 2010 ausgefallen, liessen sich einige Branchenvertreter vernehmen. Ach du glückliches Bordeaux: Derweil du einen Jahrhundertjahrgang nach dem anderen erntest, darbt der Rest Europas und versucht, einigermassen ordentliche Weine zu keltern! Unser einwöchiger Besuch vor Ort zeigte jedoch einmal mehr: Der jüngste Jahrgang ist immer der beste, denn er muss noch verkauft werden.

Zwar finden sich einige exzellente 2010er Bordeaux, viele präsentieren sich aber recht unharmonisch, mit harten, unreifen Tanninen, die im Verhältnis zur Frucht überdimensioniert sind. Wir werfen einen Blick zurück auf den Verlauf der Vegetationsperiode, der vieles erklärt. 2010 war meteorologisch ein sehr turbulentes Jahr. Ungewöhnlich waren die dauerhaften Hochdruckgebiete im Sommer über Moskau und dem Schwarzen Meer, die sich zu einer Art Hochdruckbrücke vereinten und verhinderten, dass die Tiefdruckgebiete weiterziehen konnten. Dies bewirkte eine extreme Trockenheit in Russland und massive Niederschläge in den angrenzenden Ländern wie Polen, Rumänien, Tschechien und auch Österreich.

Diese Hochdruckbrücke beeinflusste auch das Wetter im restlichen Europa und führte zu vergleichsweise statischen Verhältnissen. So wurde Bordeaux zunächst von einem stationären Hoch über dem Atlantik beeinflusst und später ab August und September davon, dass sich kaum Tiefdruckgebiete Richtung Westfrankreich bewegten. Dafür litten die burgenländischen Winzer unter fast doppelt so hohen Niederschlägen wie sonst üblich.

Extreme Trockenheit

Diese Trockenheit ist der prägende Faktor des Bordeaux-Jahrgangs 2010. Von Mitte Juni bis Mitte Oktober fiel fast kein Regen, was zu ei- nem der trockensten Sommer seit einem halben Jahrhundert führte. Was bewirkt ein Wassermangel? Wasser ist für praktisch alle Stoffwechselvorgänge der Rebe notwendig, und es ist die Trägersubstanz für alle Nährstoffe, wel- che die Rebe aus dem Boden aufnimmt. Wasser kann gewissermassen mit dem Blut des Menschen verglichen werden. Typische Merkmale von Trauben aus Trockengebieten sind verzögerte Reifevorgänge und ein hoher Zucker- gehalt durch die Dehydrierung der Traube. Diese hohen Zuckerwerte gaukeln eine vermeintliche Reife vor, die aber oft aufgrund der durch den Wassermangel verursachten Reifeblockade ungenügend ist.

Einige Winzer liessen hinter vorgehaltener Hand verlauten, dass sie erstaunt waren, wie schwierig die physiologische Reife 2010 zu erreichen war. Deshalb besitzen Weine solcher Trauben oft harte Gerbstoffe. Auch der Abbau der Säure wird blockiert, was zu tanninreichen, säurebetonten Weinen mit einem tiefen pH- Wert führt. Diese Phänomene sind in den heis- sen Anbauregionen in Übersee bestens bekannt und treffen präzis auf viele 2010er Bordeaux zu. Umso mehr überrascht die Dreistigkeit ge- wisser Bordelaiser Produzenten, die Trockenheit zu bagatellisieren und die Gerbstoffe zu verharmlosen. So belehrte uns Gérard  Perse, die ruppigen Tannine seiner Weine wie Pavie oder Bellevue Mondotte seien lediglich auf die später als üblich einsetzende malolaktische Gä- rung zurückzuführen. Wer derart unqualifizier- ten Äusserungen Glauben schenkt, wird später überrascht zur Kenntnis nehmen müssen, dass die vermeintlichen Preziosen ähnlich wie ge- wisse 1986er oder die Mehrzahl der 1975er reifen: Die Frucht verschwindet. Was bleibt, ist ein hartes Tanningerüst, das Weine ergibt, die zwar aufgrund der massiven Gerbstoffe sehr haltbar sind, aber kaum Freude bereiten.

Deutlich souveräner reagierte der ehemalige Pétrus-Direktor Jean-Claude Berrouet, der freimütig zugab, dass sie 2010 trotz sehr hohen Öchslegraden nicht immer die gewünschte Reife erzielen konnten und die Traubenkerne unreif blieben. Die Bedingungen hätten ihn an jene in Kalifornien bei der Herstellung des Prestigeweines Dominus erinnert.

Gute Premiers Crus

Überraschend war jedoch die sehr hohe Quali- tät der Premiers Crus. Was bereits vor einiger Zeit wissenschaftlich erhärtet wurde, bewiesen die besten 2010er: Die Böden einer grossen Lage zeichnen sich auch in trockenen Jahren durch eine gute und ausgewogene Wasserver- sorgung aus. Das oftmals hohe Alter der Stöcke solcher Rebberge unterstützt diesen Effekt. Ihre Wurzeln gründen wesentlich tiefer. Dadurch sind sie viel weniger anfällig auf Trockenheit als junge Reben, und die Versorgung mit dem lebensnotwendigen Wasser ist gewährleistet.

Lagen mit weniger guter Wasserspeicher-Kapazität wie die kieshaltigen, wasserdurchlässigen Lagen in der Gemeinde Margaux oder die sandigen Flächen in der Ebene von St-Emilion waren durch die Trockenheit benachteiligt. Deshalb überrascht es nicht, dass viele Weine aus diesen Gebieten enttäuschten. Glücklicherweise erreichten 2010 die Temperaturen nie jene von 2003, sonst wären die Auswirkungen noch dramatischer gewesen, und die Weine hätten ihre Frische eingebüsst. Von einem kühlen Sommer zu sprechen – wie dies mancher Winzer tat –, ist jedoch falsch. Juli und August hatten über zehn Prozent mehr Sonnenschein-Stunden als üblich. Auch die Durchschnittstemperaturen lagen knapp ein Grad höher.

Späte Ernte, tiefe Erträge

Positiv wirkte sich die Trockenheit auf den Gesundheitszustand der Trauben aus, die fäulnisfrei blieben. Wie die Trockenheit prägten der eher späte Austrieb und die ungleichmässige Blüte aufgrund des Kälteeinbruchs am 6. Juni den Charakter des Jahres. Dies führte insbesondere bei den älteren Merlot-Stöcken zur Ver- rieselung und Kleinbeerigkeit – ein Grund für die späte Ernte und die durchwegs tiefen Erträge.

Die Ernte verlief unter besten Bedingungen, weil keine Regenfälle die Qualität der Trauben beeinträchtigten. Im  September fielen  rund 20 mm gegenüber 90 mm im langjährigen Durchschnitt. Auch der Oktober blieb weitge- hend trocken. Nur der 4. Oktober brachte etwas Niederschlag. Von diesen Bedingungen profitierte der spät reifende Cabernet-Sauvignon, der im Médoc häufig besser gelang als der Mer- lot. Bei der Lese waren die Trauben erstaunlich klein und saftarm, die Schalen sehr farbintensiv. Denis Durantou von Chˆateau L’Eglise-Clinet gab das Gewicht von 100 Beeren mit weniger als 100 Gramm an, gegenüber sonst üblichen 150 Gramm. Wer jetzt zu stark extrahierte, potenzierte die Probleme des Jahres und erzielte säurereiche Weine von derb-rustikalem Geschmack. Von der Stilistik drängt sich am ehes- ten ein Vergleich mit anderen trockenen Jahren auf, insbesondere mit dem 2005er. 2005 war sehr trocken. Der Austrieb erfolgte gleichfalls später als üblich. Auch Vergleiche mit den harten Weinen aus dem Jahr 1986 helfen, den Cha- rakter der 2010er besser zu erfassen. Dies ganz im Gegensatz zum üppigen 2009er, der vom Stil her am ehesten mit den charmanten 1982ern verglichen werden kann.

Klimawandel im Bordelais

Ein für hochwertige Weine besonders geeignetes Klima ist warm, aber nicht zu heiss, mit einer guten, jedoch nicht zu reichlichen Wasserversorgung. Das führt zu einer harmonischen, zeitgleichen Ausreifung der verschiedenen Parameter wie Phenole (Farb- und Gerbstoffe), Zucker und Säure. Das vergleichsweise milde, vom Atlantik geprägte Bordelaiser Klima schien dies perfekt zu vereinen. Seit einigen Jahren stellt man in Bordeaux jedoch fest, dass das Klima deutlich trockener und wärmer wird. Es verwundert daher nicht, dass die Bordelaiser zunehmend mit ähnlichen Problemen wie in überseeischen Gebieten konfrontiert sind. Wurde früher vor der Gärung noch Zucker dazugegeben, um wenigstens 12 Prozent Alkohol zu erreichen, ist nun das Problem, dass zu viel Alkohol entsteht und die Zuckerwerte bereits sehr hoch liegen, bevor die phenolische Reife erreicht wird. Einige St-Emilion-Weingüter erzeugten 2010 Weine mit über 16 Prozent Alko- hol, selbst La Mission Haut-Brion brachte es trotz 62 Prozent Cabernet-Sauvignon-Anteil auf über 15 Prozent Alkohol.

Ob die Bordelaiser realisieren, dass es sich bei ihrem Phänomen der permanenten Jahrhundertjahrgänge langfristig nicht genau um das Gegenteil handeln könnte, nämlich um einen schleichenden Stilwechsel hin zu vergleichsweise massiven, schwerfälligen Weinen? Den geänderten Umständen wurde zumindest bereits Rechnung getragen: Seit letztem Jahr darf der Alkoholgehalt von Bordeaux durch technische Verfahren reduziert werden. Manche Produzenten haben begonnen, bei der Vergärung Reinzuchthefen mit tieferer Alkohol-Ausbeute zu verwenden. Auch bei der Arbeit im Rebberg sind Änderungen angesagt. Wird es noch trockener, muss man sich mittelfristig mit dem Gedanken einer kontrollierten Bewässerung befassen, um die Qualität wahren zu können.

Exzellente Weine aus Pauillac

Besonders beeindruckten uns heuer die Weine der grossen Lagen. Sie begeisterten alle durch Fülle und Komplexität, ohne unreife Gerbstoffe oder eine zu hohe Säure aufzuweisen. Direktor Hervé Berland vergleicht den prächtigen 2010er Mouton mit dem grandiosen 1986er. Fast noch überraschender war die herausragende Qualität des gleichfalls zu Mouton gehörenden Château d’Armailhac. Die grossen Investitionen in ein Kelterhaus und neue Sortiertische scheinen sich mehr als ausbezahlt zu haben.

Überhaupt gefiel die Gemeinde Pauillac von sämtlichen Médoc-Gemeinden am besten. Hier können zahlreiche exzellente Weine gefunden werden. In die gleiche Kategorie gehört Cos-d’Estournel aus St-Estèphe,  das  einen köstlichen Wein mit überraschend abgerundeten Tanninen hervorgebracht hat. Ebenfalls gelungene Weine entstanden in St-Julien. Allen voran kelterte Didier Cuvelier von Léoville-Poyferré einen fleischigen, komplexen Wein.

Enttäuschend dagegen sind die Weine der Gemeinde Margaux, in der einzig der Premier Cru  Château  Margaux  sowie  Palmer  wirklich brillierten. Paul Pontallier von Margaux erzeugte einen ungemein sublimen, herrlichen Wein, der fast zu 100 Prozent aus Cabernet-Sauvignon besteht. Gemäss Pontallier war der Merlot zwar schön, aber letztlich zu alkoholreich und zu wenig delikat. Der Chef de Culture der Haut- Brion-Domänen, Pascal Baratié, erläuterte, dass 2010 bei ihnen das trockenste Jahr seit 1959 gewesen sei. Auch er berichtete von der Schwierigkeit, dass bereits sehr hohe Zuckerwerte erzielt wurden, bevor die physiologische Reife einsetzte. Haut-Brion ist ein grossartiger, maskuliner Wein. Sogar der Zweitwein Clarence ist köstlich. Ausgezeichnet sind auch Pape-Clément, Domaine de Chevalier und der seit einiger Zeit überraschend gute Fieuzal.

Die Weine aus St-Emilion und Pomerol wirkten sehr wuchtig und gehaltvoll. Qualitativ findet man alles, von überextrahierten, fast bitteren bis hin zu wunderbar gelungenen, verführerischen Weinen. Grundsätzlich war das Jahr 2010 für die Merlot-Traube etwas schwieriger als für den Cabernet. Merlot verträgt die Trockenheit weniger gut. Er ist anfälliger auf Verrieselung, und die Zuckerwerte schnellen rascher in die Höhe.

Unglaublich schön sind Vieux-Château-Certan aus dem Pomerol, mit einer fast seidigen Struktur, oder aber der virile, wuchtige Ausone aus St-Emilion. Cheval-Blanc wirkt zurzeit noch etwas streng und verschlossen. Dies verwundert aber bei einem Anteil von zwei Drittel Cabernet-Franc kaum. Auch wenn dies ungern zugegeben wird, führte die Trockenheit im Sauternes dazu, dass sich kaum Botrytis (Edelfäule) entwickeln konnte, die für die Erzeugung hochwertiger Süssweine so wichtig ist. Entsprechend waren wir von deren Qualität enttäuscht. Die Weine schmecken leicht und besitzen wenig Aroma. Von einem Kauf wird abgeraten.

Ein   Négociant brachte es auf den Punkt: Ohne China würde das Bordelais in einer Krise stecken. Tatsächlich ist seit einiger Zeit die Nachfrage aus dem Reich der Mitte dramatisch gestiegen. Bordeaux, insbesondere die Premiers Crus, sind dort Prestigeprodukte schlechthin, egal, ob sie zu chinesischem Essen passen oder nicht. Interessanterweise werden die Weine mehrheitlich als schlichte Marke gehandelt.

Weder die Qualität des Jahrgangs noch die Be- wertung des US-Kritikers Robert Parker scheinen eine Rolle zu spielen. So erzielten beispielsweise die weniger gelungenen Lafite-Jahrgänge 2004, 2006 und 2007 die höchsten Preissteigerungen. Der Mythos um Lafite ist sowieso ein äusserst spannendes Phänomen. Kein anderer Premier Cru erfreut sich in China einer derart grossen Beliebtheit. So ist Lafite-Rothschild bereits doppelt so teuer wie Mouton-Rothschild und Margaux und dreimal so teuer wie Haut-Brion. Der 2008er Lafite, dessen Flasche mit einem chinesischen Glücks- symbol dekoriert ist, stieg innerhalb der letzten eineinhalb Jahre im Wert gar um über unglaubliche 500 Prozent.

Chinesen kaufen Lafite

Die Gründe für die Beliebtheit von Lafite sind unklar. Mit dem Geschmack des Weines hat es nichts zu tun. Insider vermuten, dass in erster Linie die frühe Marketingtätigkeit der Domaines Rothschild in China dem Weingut zu diesem glamourösen Image verholfen hat. Möglicherweise unterstützt Lafites erste Position in der 1855er Klassifikation diesen Effekt, und auch die Tatsache, dass der Name für Chinesen besonders gut auszusprechen ist.

Wie dem auch sei, dieses Jahr erschienen die Chinesen zahlreich zur Primeur-Verkostung. Sie werden in bedeutenden Mengen in Subskription einkaufen. Auf eine Preisreduktion der bekanntesten Crus gegenüber den bereits extrem teuren 2009er dürfte der Weinfreund deshalb vergebens hoffen. Umso mehr lohnt sich die Ausschau nach guten, noch bezahlbaren Weinen. Dazu gehören etwa Château d’Armailhac aus dem Pauillac oder Fieuzal aus dem Pessac-Léognan.

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