Schwanders Epfehlung: Bordeaux 2009, NZZ am Sonntag, 18. April 2010

TEXT PHILIPP SCHWANDER

2009 ist eines der schönsten Bordeaux-Jahre seit langem, findet Master of Wine Philipp Schwander

Wie arg wurde doch der Begriff «Jahrhundert-jahrgang» in diesem Dezennium strapaziert. Die Lobeshymnen der Bordelaiser kannten kein Ende. Manche Journalisten glaubten geduldig die immer wiederkehrende Mär vom ultimativen Jahrgang. Blicken wir auf die letzten neun Jahre zurück, lässt sich festhalten: Verdiente ein Jahr die überschwängliche Bezeichnung «Jahrhundertjahrgang», wäre es 2009!

Tatsächlich ist es bemerkenswert, wie zurückhaltend der 2009er von den Winzern angepriesen wurde. Die sonst eindringlichen Qualitäts-Beschwörungen wichen einer gelassenen, heiteren Stimmung. Kein Wunder: Selbst dem unbedarftesten Verkoster musste auffallen, wie charmant und voller süsser, reifer Frucht viele Weine waren. So erübrigten sich denn für einmal  die  übertriebenen  Lobgesänge  der  Châteaux-Vertreter. Wie beim Jahrgang 1989 ertappten wir uns beim heimlichen Hinunterschlucken von 2009er-Fassproben. Zahlreiche Weine dieses Jahres haben einen betörenden Charme und erinnern an die von Beginn weg köstlichen, reichhaltigen 1982er und 1989er. Allerdings dürften sie wesentlich haltbarer sein.

Um den Charakter der Weine zu verstehen, vergleichen wir das Jahr mit dem letzten grossen Jahrgang, dem 2005er. Sieht man von den Verwüstungen durch den Hagel in einigen Gebieten ab, meinte es der Wettergott 2009 besonders gut mit den Winzern. Gegenüber dem vorschnell als Jahrhundertjahrgang deklarierten 2005er besitzt der 2009er einige signifikante Vorteile. 2009 war zwar ein trockenes Jahr (knapp 700 mm Niederschlag gegenüber dem langjährigen Durchschnitt von 900 mm), die Reben wurden aber besser mit Wasser versorgt als 2005. Extreme Trockenheit in den entscheidenden Monaten Juli und August führte 2005 zu Reife-Blockaden und bewirkte, dass zahlreiche Weine tanninreich ausfielen. Zusätzlich sorgten die regenreichen Monate Januar und April 2009 für gute Wasserreserven, über die der 2005er nicht verfügte. Ab Mai wurde es wärmer, glücklicherweise lagen die Niederschläge im Vergleich zu 2005 immer noch im normalen Bereich. Juli und August waren trocken und warm, aber nie so exzessiv heiss wie beispielsweise 2003. Sie glichen in ihrem Verlauf mehr 1982.

Auch im August 2009 fiel wenig Regen. Dies führte auf den wasserdurchlässigeren, leichteren Böden ab Ende August zu Reifestopps. So sprachen zu diesem Zeitpunkt manche Winzer von einer «Languedoc-Reife» – Weine mit hohem Alkoholgehalt, aber unreifen Tanninen. Ein Geschenk des Himmels war der Regen zwischen 15. und 20. September, besonders im Pomerol. Er versorge die Pflanzen mit dem dringend benötigten Wasser und sorgte für einen eigentlichen Entwicklungsschub. Um eine optimale Reife zu erzielen, war allerdings mehr Geduld notwendig als vorerst vermutet. Einige Produzenten geben hinter vorgehaltener Hand zu, dass es erst ab Ende September möglich war, wirklich gut ausgereifte Trauben zu gewinnen. Winzer, die sich aufgrund des hohen potenziellen Alkohols und der fälschlicherweise bereits für die erste Septemberhälfte angekündigten Regenfälle zu einer vorschnellen Ernte verleiten liessen, kelterten Weine mit harten Gerbstoffen. Wer die Nerven hatte und zuwartete, profitierte vom 21. September bis zum 19. Oktober von einem grandiosen Altweibersommer und einem zusätzlichen Phänomen, das schon den 2008ern geholfen hatte: Die Temperaturen stiegen wieder. So erreichten die durchschnittlichen Tageshöchstwerte in den ersten zehn Oktobertagen sensationelle 24,6 °C gegenüber üblichen 18,8 °C. Das seit dem Juni vorteilhafte Wetter ermöglichte so in vielen Fällen ein hervorragendes Ausreifen gesunder Trauben. Die von Weingütern wie Pichon-Baron oder Mouton-Rothschild neu eingesetzten optischen Sortiergeräte erwiesen sich 2009 als überflüssig. Dabei wird jede Beere auf zuvor definierte Parameter untersucht. Entspricht eine Beere nicht den Erfordernissen, wird sie ausgeschieden.

Ernteausfall wegen Hagels

Für einen Teil der Produzenten war 2009 aber auch ein Schicksalsschlag. Zwischen dem 11. Mai und dem 8. Juni zerstörte der Hagel die Ernte geschätzter 18 000 von insgesamt 110 000 Hektaren im Bordelais. Das sind die schwersten Schäden seit Jahrzehnten. Im Extremfall führte der Hagel zu einem Ernteausfall. Weil er früh auftrat, konnten sich manche Rebberge wieder erholen. Zahlreiche Weingüter wie Haut-Brion oder Palmer erzeugten trotz kleineren Schäden grossartige  Weine.  Verschont  wurden  das  Médoc nördlich von Cantenac (Margaux), Pomerol und das Sauternais. Betroffen waren Teile der Gemeinde Margaux, das Graves-Gebiet und der Westen St-Emilions. Die schwersten Verwüstungen erlitten Entre-deux-Mers und die nordöstlichen Teile von St-Emilion.

Insgesamt kann der 2009er vom Stil her durchaus mit den 1989ern und 1982ern verglichen werden, wenn auch die meisten 2009er deutlich gelungener sein dürften. Die Erträge liegen aufgrund der sorgfältigeren Arbeit im Rebberg viel tiefer als früher. Ausserdem deklassieren  heutzutage die führenden Châteaux einen beträchtlichen Teil der Ernte und füllen nur die besten Partien als «grand vin» ab. Zwar sind die 2009er üppig, konzentriert und alkoholreich, sie besitzen aber in den meisten Fällen eine klassische Aromatik, ohne störende Aromen von Dörrfrüchten aufzuweisen, wie wir sie bei den 2003ern feststellen mussten. Dies ist der vorteilhaften Witterung ohne übermässige Hitze zu verdanken, aber auch – im Gegensatz zu 2003 und 2005 – den ausgesprochen kühlen Nächten. Sie bewahrten den Trauben auf natürliche Weise eine frische Säure. Nicht alle Winzer ernteten leider zum richtigen Zeitpunkt. Einige brachten ihre Trauben zu früh, andere erst in überreifem Stadium ein Konzentration um jeden Preis?

Um eine hohe Benotung durch den für Bordeauxweine massgebenden US-Journalisten Robert Parker zu erhalten, versuchen einige Betriebe, einen möglichst wuchtigen Wein zu keltern. Sie reduzieren die Erträge im Rebberg stark, wodurch die verbleibenden Trauben zu höherer Reife gelangen. In weniger guten Jahren können so hervorragende Qualitäten er- zeugt werden. In Jahren wie 2009, die von Natur aus besonders konzentrierte Weine erbringen, kann dies wie bei Pavie fatalerweise zu überdimensionierten, harten Weinen führen. Ein weiterer Weg für eine höhere Konzentration ist, die Traubenmaische sehr stark zu extrahieren.

Dadurch wird der Wein in seiner Jugendphase imposanter. Allerdings ist fraglich, ob diese forcierte Extraktion für die langfristige Reife des Weines einen Vorteil bietet. Seit 2002 wird auf Cos-d’Estournel alles unternommen, um die höchstmögliche Qualität zu erreichen. Die Weine der letzten Jahre präsentierten sich in der Primeur-Verkostung beeindruckend, aber auch tanninreich. Wir sind uns nach einer Verkostung der Cos-Jahrgänge zurück bis 2003 nicht sicher, ob diese Massen an Gerbstoff in einem harmonischen Verhältnis zur Frucht stehen.

Es wird auf alle Fälle interessant sein, den weniger wuchtigen, von höheren Erträgen stammenden, aber geschmeidigeren 2009er Montrose in einigen Jahren mit dem zurzeit dichteren Cos zu vergleichen. Fragwürdig dürfte schliesslich die Entwicklung von Weinen wie Bellevue-Mondotte (St-Emilion) sein, die mehr an einen alkoholischen Napa Valley als an einen noblen Bordeaux erinnern. Dass man den modernen, reichhaltigen Stil auch erfolgreich pflegen kann, beweist Palmer, welches Kraft, weiche Tannine und Anmut auf bewundernswerte Weise miteinander verbindet.

Ein sublimer, ätherischer Wein allerhöchster Finesse gelang Paul Pontallier von Château Margaux, der wegen der Trockenheit lediglich ein Drittel der Ernte für den «grand vin» selektionierte. Auf Palmer ist möglicherweise der schönste, opulenteste Wein seit dem legendären 1961er erzeugt worden, aber auch Malescot-St-Exupéry zeigte einen seiner besten Weine. In St-Julien waren wir vom schwarzbeerigen, köst- lichen Ducru-Beaucaillou und vom distinguierten, etwas unterkühlten Le´oville-Las Cases beeindruckt. Feminin und verführerisch zeigte sich Branaire-Ducru.

Grossartiges Pauillac

Höher als St-Julien stuften wir Pauillac ein. In dieser Gemeinde wurden einige grosse Klassiker erzeugt. Allen voran begeisterte uns Mouton-Rothschild, das ohne weiteres einen Wein vom Kaliber eines 1982ers oder 1986ers hervorbringen dürfte. Auch auf Lafite, Lynch-Bages und Pichon-Baron kelterte man mächtige, ungemein noble Weine. Einzig Latour scheint im Moment noch ein wenig verschlossen. Ein köstlicher Wein voller Frucht und abgerundeter Tannine gelang der Equipe von Montrose in St-Estèphe. Bei den preiswerteren Weinen stachen Meyney, Ormes de Pez und Phélan-Ségur hervor. Etwas heterogener wirkte das Graves, wobei Haut-Brion einen superben Wein präsentierte, der den 1989er und 1990er mit Sicherheit übertrifft. Im Libournais findet man alle Güteklassen von grossartig bis enttäuschend. Es war nicht einfach, die vorherrschende Merlot-Sorte zum richtigen Zeitpunkt zu lesen. Die hohen Alkoholwerte machten den Produzenten zu schaffen. Sie erreichten 16 Prozent und mehr. Oft war es schwierig, die Weine durchzugären,

ohne die maximal erlaubten 2 Gramm Restzucker zu überschreiten. Zusätzlich wurden Reblagen von Hagel in Mitleidenschaft gezogen.

Am homogensten empfanden wir Pomerol, das einige füllige, barocke, köstliche Weine her- vorbrachte. Olivier Berrouet, der Sohn des langjährigen Pétrus-Direktors Jean-Claude Berrouet, hatte das Glück, gleich mit einem grandiosen Jahrgang seinen Einstand feiern zu dürfen. Bilderbuch-Weine vinifizierten Evangile und  Vieux-Château-Certan. Überwältigend in St-Emilion sind Cheval-Blanc und Angélus, die im Moment besser als der etwas verschlossene Ausone gefielen. Freunde eleganter, klassischer Bordeaux dürfen sich auf einen grossen Figeac freuen. Canon war mit seiner Burgunder-ähnlichen Frucht unwiderstehlich.

In einer seltenen Koinzidenz brachten auch die Winzer im Sauternes-Gebiet, bekannt für seine Süssweine, ihre wahrscheinlich beste und grösste Ernte seit langem ein. Die Regenfälle um den 20. September und Frühnebel in der Region bewirkten Anfang Oktober eine explosionsartige Entwicklung der für diese Weine wichtigen Edelfäule. Die grösste Herausforderung war, innerhalb kürzester Zeit den Hauptteil der Ernte einzubringen. Einige Produzenten mussten Weinpressen ausleihen, um die unver- sehens angefallenen Mengen zu verarbeiten. Wer länger als bis zum 19. Oktober zuwartete, erntete eine schlechtere Qualität. Bemerkenswert ist die frische Säure, welche den hohen Restzucker harmonisch ausgleicht. So erzeugte Yquem mit 155 Gramm Restzucker einen seiner süssesten Weine. 

Philipp Schwander

 

Unrentables Bordeauxgeschäft

Offensichtlich ist das Bordelaiser Vermarktungssystem äusserst effizient, so effizient, dass ein maximal möglicher Verkaufspreis erzielt werden kann. Die Négociants in Bordeaux bieten die Weine der berühmten Châteaux weltweit Tausenden von Händlern an. Weil keine Exklusivitäten vergeben werden, sondern im gleichen Land verschiedene Händler die selben Weine anbieten, ist die Marktdurchdringung besonders tief, die Marge des einzelnen Händlers jedoch gering. Die grössten Gewinne werden von den gefragtesten Produzenten erwirtschaftet, die in den letzten Jahren für ihre Weine astronomische Preise erzielten. Allerdings lagen sie vielfach zu hoch, in den traditionellen Absatzmärkten gingen die Verkäufe stark zurück und zahlreiche Weine blieben unverkauft beim Handel. Grosses Aufsehen erregte vor kurzem die Schliessung der Bordeauxsparte des grössten US-Importeurs für Bordeauxweine Chateau & Estate. Einige Produzenten und zwei der wichtigsten Bordeaux Négociants kauften die Bestände zurück, um zu verhindern, dass die Preise auf breiter Front einbrachen. Jedoch ist für 2009 nicht mit vernünftigen Preisen zu rechnen. Gerade bei den Premiers Crus werden sich die Reichen der Welt um die wenigen Flaschen reissen, die wahrscheinlich zu grotesken Preisen ihre Käufer finden werden. Bereits die Stufe darunter wird preislich markant tiefer liegen, obwohl deren Qualität meist sehr nahe bei den Premiers Crus liegt. Aufgrund ihrer schwachen Währungen und der wirtschaftlichen Lage werden die USA und Grossbritannen nicht in gewohntem Ausmass Primeurs einkaufen. Bereits in den vergangenen Jahren ist ausserdem sehr viel nach Grossbritannien verkaufter Wein in den Fernen Osten verschoben worden. Unverhohlen hofft man in Bordeaux deshalb auf die asiatischen Märkte, die zunehmend als wichtige Nachfrager auftreten. Noch nie jedenfalls sah man derart viele Chinesen in Bordeaux. Für den Weinfreund besteht trotzdem kein Grund zur Sorge: Abgesehen von den rund vierzig berühmtes- ten Châteaux, können vom 2009er mit Sicherheit sehr viele hervorragende Bordeaux zu vernünftigen Preisen erstanden werden. Gewisse Weine von weniger bekannten Médoc-Gütern wie Pibran, Meyney oder Labégorce dürften gar ein Schnäppchen sein. Der 2008er hat sich zudem sehr positiv entwickelt. Auch hier sind ohne Frage interessante Käufe möglich.

Philipp Schwander

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