Schwanders Epfehlung: Bordeaux 2008, NZZ am Sonntag, 19. April 2009

TEXT PHILIPP SCHWANDER

Wer sich Anfang dieses Jahres an das nasse, kalte Frühjahr und den verregneten Sommer 2008 erinnerte, den schauderte es beim Gedanken an die Qualität, welche dieser Bordeaux-Jahrgang hervorbringen musste. So reisten wir mit einer gehörigen Portion Skepsis Richtung Westfrankreich und stellten uns innerlich auf einen noch unreiferen Jahrgang als 2007 ein. Aber schon bei der ersten, breit angelegten Vergleichsdegustation von rund 200 Fasswein-Proben war die Überraschung gross: Zahlreiche Weine verführten durch Charme und Finesse, besassen reife, abgerundete Gerbstoffe und eine frische, klassische Aromatik, die begeisterte. Was war geschehen?

Tatsächlich gleichen sich bei einer oberflächlichen Betrachtung des meteorologischen Verlaufs der Vegetationsperioden die Jahrgänge 2008 und 2007. Beide litten unter einem schlechten Sommer und profitierten von einem herrlichen Herbst. Einer der entscheidenden Faktoren für den grossen Unterschied scheint der Juli zu sein, ein wichtiger Monat für die Bildung des Tannins in den Beeren. 2008 war dieser im Gegensatz zu 2007 trocken und warm, glücklicherweise aber nie richtig heiss. Die Niederschläge lagen mit 20 mm deutlich unter dem langjährigen Durchschnitt von 53 mm.

Erträgemassiv reduziert

Zusätzlich reduzierten gleich mehrere Umstände auf fast drakonische Weise die Erträge, die zu den tiefsten seit dem Frostjahr 1991 zählen. Der Fruchtansatz des laufenden Jahres wird bereits durch die Blüte des Vorjahres bestimmt. Diese verlief 2007 nicht besonders gut. Man vermutet, dass aus diesem Grund die Rebstöcke 2008 einen deutlich geringeren Behang aufwiesen. Frost am 7. April und eine unharmonische Blüte (Verrieselung) reduzierten zusätzlich den potenziellen Ertrag. Das recht feuchte Frühjahr führte zu ähnlichen Schwierigkeiten wie 2007 mit der Pilzkrankheit Falscher Mehltau. Allerdings waren die Produzenten nun besser darauf vorbereitet. Im regnerischen, kühlen August dünnten die qualitätsbewussten Betriebe wegen der unterschiedlichen Reife der Trauben die Erträge nochmals durch eine Grünlese aus. Wer dies unterliess, bekam bei der Lese Mühe, die reifen von den unreifen Trauben zu trennen.

Die weiterhin regnerische Witterung verursachte ab Anfang September bei manchen Betrieben Probleme mit der Graufäule (Botrytis). Die Stimmung sank auf den Tiefpunkt. Die dramatische Wende kam erst am 13. September, als ein konstantes Hochdrucksystem über grossen Teilen Europas für prächtiges Wetter bis Ende Oktober sorgte. Der trockene September in Kombination mit den kühlen Nächten und Nordwinden wirkte wie ein Jungbrunnen auf die geplagten Reben, die sich erstaunlich schnell von der klimatischen Unbill erholten. Die Schönwetterperiode konnte im Oktober 2008 noch etwas länger ausgekostet werden als 2007. 2008 war der Oktober erstaunlich warm. Er lag teilweise 3 °C über der Norm, und ein steter Wind sorgte für eine starke Dehydrierung der Trauben und eine abermalige Konzentration. Die Lese begann Anfang Oktober und zog sich bei guten Bedingungen bis Mitte des Monats hin. Alle waren verblüfft über die gesunden, hochwertigen Trauben.

Intensive Aromen

2008 wurde es selten wirklich heiss.Wir finden deshalb keine gekochten Aromen von überreifen Früchten, die in zahlreichen, wesentlich wärmeren Jahren für einen unerwünschten «Neue-Welt-Stil» sorgten. Die Bordeaux-Faustregel besagt, dass die Traubenreife 100 bis 110 Tage nach der Blüte eintritt. Die Vegetationsperiode war 2008 mit rund 135 Tagen extrem lang, was zur Folge hatte, dass die Aromen aussergewöhnlich intensiv und markanter sind als sonst. Der sonnige September mit seinen kühlen Nächten bewahrte die Säure, was für die Frische der Weine wichtig ist. Grünliche, unreife Aromen, eine rohe Säure oder unreife Gerbstoffe, wie wir sie beim 2007er festgestellt hatten, entdeckt man bei den guten Betrieben kaum. Interessant war es, zu beobachten, dass es viele sehr gelungene Weine gibt, aber selten wirkliche Stars. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass 2008 zwar definitiv ein gutes Jahr ist, aber letztlich doch kein wirklich grosses. Überraschend war auch das vergleichsweise schwache Abschneiden der Premiers Crus, insbesondere von Lafite. Aufgrund der viel späteren Ernte und des verzögert eingetretenen biologischen Säureabbaus hätten die Degustationen erst im Mai stattfinden dürfen. Es ist deshalb durchaus möglich, dass sich diese Weine in einigen Wochen vorteilhafter präsentieren werden.

Im Médoc gelang der Cabernet-Sauvignon besonders gut. Als spät reifende Sorte profitierte er von der ausgedehnten Schönwetterperiode im Oktober. Viele Weingüter reduzierten deshalb in der Assemblage den Merlot zugunsten des Cabernet. Die Gemeinde Margaux brachte einige schöneWeine hervor, wirkte insgesamt jedoch weniger erfolgreich als St-Julien oder Pauillac. Möglich, dass der lokale Hagel Ende Mai die Vegetation verzögerte. In St-Estèphe kosteten wir unterschiedliche Qualitäten. Cos-d'Estournel erzeugte den gelungensten Wein und untermauerte mit seinem neuen, gigantischen Keller seinen Anspruch als einer der führenden Deuxième Crus. Seit 2005 ist die Qualität in diesem Betrieb mustergültig. Einzig die massiven Tannine verhinderten vorerst, dass wir den 2008er in die höchste Kategorie einstuften. Auf Montrose zeigte man uns einen finessenreichen, noblen, insgesamt aber etwas weniger imponierenden Wein.

In Pauillac bereitete die Verkostung von Lynch-Bages trotz dem stolzen Ertrag von 49 hl/ha Freude: ein kraftvoller, herrlicher Cabernet wie aus dem Bilderbuch. Erstaunlich gelungen ist Grand-Puy-Lacoste. Hervé Berland, der Direktor von Mouton, las mit 700 (!) Erntehelfern einen gut ausgereiften Cabernet; der elegante, finessenreiche Wein wirkte noch etwas verschlossen. In Margaux überzeugten Palmer und Malescot St-Exupéry sehr. Auch Château Margaux gefiel. Man konnte sich des Eindrucks aber nicht erwehren, dass mit tieferen Erträgen und strengerer Selektion das Qualitäts-Potenzial noch weiter ausgelotet worden wäre. Die grosse Überraschung war Ferrière. Miteigentümerin Claire Villars konnte angeblich eine alte Merlot-Parzelle hinzupachten. Dadurch verbesserte sich die Qualität ihresWeines dramatisch.

Herrliches Libournais

2008 war ebenso ein Jahr herausragender Merlots. Die schönsten Exemplare entdeckten wir in Pomerol, aber auch St-Emilion brachte einige Glanzpunkte hervor. Einen der besten Weine überhaupt erzeugte die Equipe des zu Lafite gehörenden Evangile. Oft gerieten dessen Weine etwas üppig und zu reif. 2008 aber scheint die perfekte Synthese zwischen Reife und nobler Frucht gelungen zu sein. Auch Eglise-Clinet kel-terte einen sehr gelungenen Wein. Auf unsere Frage hin, wie hoch er den 2008er einstufe, öffnete der rührige Eigentümer Denis Durantou gleich sämtliche Jahrgänge zurück bis zum berühmten 1998er. Dabei schnitt der 2008er deutlich besser ab als etwa 2007 und 2006.

In St-Emilion brillierte einmal mehr Ausone, das einen tiefdunklen, unglaublich virilen, sehr massiven Wein hervorbrachte. Der Eigentümer Alain Vauthier produzierte lediglich 16 000 Flaschen. Zu Recht freute sich Pierre Lurton von Cheval-Blanc über seinen superben 2008er, der deutlich besser ist als sein Vorgänger. Auf Cheval-Blanc wurden erst kürzlich zwei der wichtigsten Leute entlassen. Es ist gut möglich, dass der katastrophale Zweitwein Petit Cheval 2007 Auslöser für diesen Entscheid war. Auch die noch 2006 geradezu erschreckend überextrahierten Weine von G´erard Perse haben einen qualitativen Sprung nach vorne gemacht. Pavie war wuchtig, aber gleichwohl ausgestattet mit reifen Tanninen. Aus dem Graves-Gebiet, das wie Sauternes am meisten vom Frost betroffen war, stammt eine Reihe schönerWeine. Am besten gelungen ist vermutlich Haut-Brion, das uns heuer mehr beeindruckte als La Mission. Fieuzals Rotwein gefiel durch gute Konzentration und eine überraschende Komplexität. Die Beratertätigkeit des Eigentümers von Ang´elus scheint bereits erste Früchte zu tragen. Für die trockenen Weissweine war 2008 ein gutes, wenn auch nicht ganz so grosses Jahr wie 2007. Bei den Süssweinen im Sauternes ernteten die Weingüter nicht zuletzt wegen des Frosts vom 7. April sehr kleine Mengen, teilweise weniger als 5 hl/ha. Der Oktober verhinderte leider eine positive Entwicklung der Botrytis, die Qualität blieb deutlich hinter jener von 2007 zurück. Am besten gefielen Yquem und Climens. Letzterer begeisterte durch einen filigraneren, frischeren Stil als in der Vergangenheit. Wie im Kunstmarkt haben in den letzten Jahren der Hype und das schnell verdiente Geld an den Finanzmärkten für unglaubliche Preissteigerungen bei den gefragtesten Weinen gesorgt. Diese Euphorie ist nichts Neues. In der wirtschaftlich sehr prosperierenden Zeit der 1860er Jahre wurden völlig verrückte Preise für Bordeauxweine bezahlt, die erst hundert (!) Jahre später wieder erreicht wurden.

Die Spekulation ist tot!

In den letzten Jahren vergass so mancher, dass Wein letztlich ein Konsum- und nicht ein Investitionsgut ist. Umso grösser dürfte jetzt der Korrekturbedarf sein. Die noch vor einem Jahr so lukrativen Märkte in Fernost und Russland sind wegen der weltweiten Wirtschaftskrise weggebrochen. Die meisten der viel zu teuer verkauften 2007er und 2006er sind Ladenhüter, manche 2007er wurden von den Importeuren erst gar nicht bezahlt. Wie einige Produzenten hinter vorgehaltener Hand eingestehen, müsse man jetzt wieder Weine für Konsumenten und nicht für Investoren anbieten. Ein weiteres Problem ist, dass die Châteaux seit dem Jahrgang 1996 viel zu hohe Preise verlangten. Wurde früher ein Wein «en primeur» erworben, konnte der Konsument damit rechnen, dass derselbe Wein nach dessen Auslieferung rund 30 Prozent teurer war. Dadurch war zu rechtfertigen, dass die Weine zwei Jahre vor ihrer Auslieferung bezahlt werden mussten. Seit dem Jahrgang 1996 waren die Primeur-Preise indes derart exorbitant, dass die Preise bei der Auslieferung meist gleich blieben. Dieser Umstand sorgte dafür, dass der Kauf «en primeur» an Attraktivität verlor und immer mehr zurückging. In der derzeitigen Situation ist mit Fug und Recht zu fragen, wer überhaupt noch Interesse hat, teure Weine zu erwerben. Grossbritannien und die USA werden aufgrund ihrer schwachen Währungen kaum als Käufer auftreten. Bei stark sinkenden Preisen eröffnet sich für den Schweizer Weinliebhaber dank der schwachen Nachfrage und dem stabilen Franken wieder einmal die Chance, hochwertige Bordeaux zu einem einigermassen vernünftigen Preis einzukellern! Philipp Schwander

Zum Originalartikel