Schwanders Epfehlung: Bordeaux 2006, NZZ am Sonntag, 22. April 2007

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TEXT PHILIPP SCHWANDER

Es ist bemerkenswert: In den ersten sechs Jahren des neuen Millenniums gelang es Bordeaux als einziger europäischer Weinregion, drei Jahrhundertjahrgänge einzufahren: 2000, 2003 und 2005. Fast scheint es, der Wettergott meine es besonders gut mit dieser berühmten Region und leite die Schlechtwetterfronten gnadenlos in andere Weingebiete um. Mittlerweile haben wir uns deshalb angewöhnt, das Bordelais auch während der Ernte zu besuchen. Nur vor Ort kann man sich ein Bild davon machen, ob die formidablen Wetterbedingungen der Wahrheit entsprechen oder ob einmal mehr ein neuer Jahrgang besonders blumig angepriesen werden soll. Letztlich ist es auch eine Definitionsfrage: Wenn beispielsweise 2000 ein Jahrhundertjahrgang sein soll, darf man 2006 ohne weiteres als guten Jahrgang einstufen. Wenn 2000 aber – was inzwischen die meisten Produzenten hinter vorgehaltener Hand zugeben – bloss ein sehr guter Jahrgang ist, dürfte es schwierig sein, dem 2006er mehr als das Prädikat «durchschnittlich» zu verleihen. Erfreulich ist allerdings, dass es 2006 einigen Châteaux gelang, exzellente Weine zu erzeugen. Einfach war dies nicht!

Die Geschichten wiederholen sich, und es erstaunt, dass sie immer wieder geglaubt werden: die Mär vom Jahrhundertjahrgang, der im letzten Moment durch Regenfälle beeinträchtigt wurde. Das maritime, vom Atlantik geprägte Klima in Bordeaux sorgt dafür, dass Regenfälle im Herbst eher die Regel als die Ausnahme sind. So war der September beispielsweise in den 90er Jahren immer regnerisch, ausser 1997. Das Wetter kann das ganze Jahr hindurch noch so vorteilhaft sein, heftige Regenfälle zur Erntezeit, gekoppelt mit warmer, feuchter Witterung, verwandeln einen hoffnungsvollen Jahrgang schnell in einen bescheidenen. So wird in den 2006er Ernteberichten der Produzenten die Zeit vor den Regenfällen in epischer Breite geschildert, die entscheidende Phase während der verregneten Ernte jedoch nur am Rande erwähnt. Möchte man ein Jahr vom Potenzial her einstufen, empfiehlt sich immer ein Blick auf die ganz einfachen Weine. Bei diesen haben die Produzenten wenig Möglichkeiten einzugreifen: Regelmässiges Spritzen gegen Pilzbefall ist zu teuer und eine strenge Selektion wegen der tiefen Preise nicht möglich. Viele einfache 2006er sind – im Gegensatz zu 2005 – miserabel, kein besonders gutes Omen für einen Jahrgang,der von gewissen Händlern bereits als «sehr gut» eingestuft wird. Um den Charakter der 2006er zu verstehen, lassen wir das Jahr meteorologisch Revue passieren.

Heiss und trocken bis Juli

Einer der kältesten Winter seit langem führte zu einem späteren Austrieb als üblich. Spät austreibende Reben beobachtete man 1996, 2000 und 2004. Sie erbrachten in der Regel maskulinere, strengere Weine als jene mit frühem Austrieb wie etwa in den üppigen Jahren 1989, 1990 und 2003. Seit Frühjahr 2003 litt Bordeaux unter Trockenperioden. Glücklicherweise regnete es im März 2006 stark und ausgiebig. Der April war erneut sehr trocken, und auch im Mai fielen lediglich 47 mm Regen gegenüber 84 mm im langjährigen Durchschnitt. Kühle Nächte führten Ende Mai teilweise zu Verrieselung, was mit ein Grund für die kleinere 2006er Ernte ist. Juni und Juli waren extrem heiss. Der Juli war der heisseste seit 1950. Mit 19 Hitzetagen in Folge schlug er sämtliche Hitzemonate der neueren Geschichte. Es ist gut möglich, dass die durchwegs hohen Alkohol-Gradationen (einige Weine liegen über 14%) auf diese Periode zurückzuführen sind.

Fast immer folgte nach einem derart heissen Juli ein ebenso warmer August, wie etwa 1983, 1990, 2003 und 2005. Nicht so 2006. Der August war unüblich kühl und feucht; ohne den aufkommenden Wind und die Sonne Ende August hätte sich bereits jetzt Fäulnis ausgebreitet. Die Kombination eines heissen Juli mit dem kühlsten August seit zwanzig Jahren ist das Ungewöhnliche am 2006er und erschwert die Vergleiche mit anderen Jahrgängen massgeblich. Denn ohne Zweifel ist der August einer der wichtigsten Monate für die Ausreifung der Traube. Der September begann mit hohen Temperaturen, die nachmittags sieben Grad (!) über dem Durchschnitt lagen. Leider war es auch sehr feucht und drückend, ideale Bedingungen für die Ausbreitung von Fäulnis. Tatsächlich gilt 2006 als eines der besten Pilzjahre seit langem – kein ermutigendes Signal für einen angeblich so gelungenen Weinjahrgang. Am 11. September setzten dann starke Regenfälle ein, die beson-ders bedrohlich für die Merlot-Traube waren. Die weichen, dünnen Schalen ihrer Beeren platzten schnell auf und sorgten da und dort für eine geradezu epidemische Ausbreitung der Fäulnis. Viele Produzenten waren nun gezwun-gen, vorzeitig zu lesen, wollten sie nicht den grössten Teil ihrer Ernte verlieren. Dies erklärt auch, weshalb zahlreiche 2006er zu wenig Reife und eine vergleichsweise hohe Säure aufweisen. Der hohe Alkoholgehalt vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die physiologische Reife vielerorts ungenügend war.

Heterogene Qualität

Da der Regen nur an gewissen Tagen und nicht kontinuierlich fiel, war es immerhin möglich, die Lese während einer trockenen Periode durchzuführen. Im Süden des Médoc waren die Niederschläge deutlich geringer als im Norden und im Libournais stärker als im Médoc. Die besten Lagen mit guter Drainage und alten Rebstöcken hatten mit deutlich weniger Fäulnis zu kämpfen. Entscheidend war die Lese. Die be-rühmten Châteaux konnten es sich leisten, mit Selektions-Tischen im Rebberg und mit zweifachen Sortier-Bändern (vor und nach dem Entrappen) hauptsächlich gesunde Trauben zu verarbeiten. Produzenten mit limitierten Mitteln erzeugten teilweise katastrophale Weine, wes-halb eine generelle Einstufung unmöglich ist.

Die besten 2006er – wie etwa Léoville-Las Cases – sind ausserordentlich gut gelungen und ähneln in ihrer kühlen Aromatik einem geschmeidigen 96er oder einem «2004er plus». Zahlreiche Weine aber zeigen weniger Reife mit deutlich härteren Tanninen und tendieren mehr in Richtung 1988. Andere wiederum sind gänzlich unreif, haben eine hohe Säure und enttäuschen. Hier sei nochmals daran erinnert, dass die Beurteilung einzelner Weine und des Jahrgangs insgesamt in diesem frühen Stadium nur eine grobe Einschätzung zulässt. Die präparierten Muster sind nicht stabil, zeigen sich aber im Grundsatz oft etwas vorteilhafter als die später gefüllten Weine.

Heikle Degustation

Weil die Beurteilung der Primeur-Weine derart entscheidend für den Verkauf ist, unternehmen viele Produzenten besondere «Anstrengungen». Ein berühmter Premier-Cru-Produzent aus dem St-Emilion gab im kleinen Kreis zu, nicht die spätere Füllung zu zeigen, sondern ein Muster mit höherem Merlot-Anteil. Dieser hat den Vorteil, schneller in der Entwicklung zu sein, wogegen Cabernet Franc und auch Cabernet Sauvignon deutlich mehr Zeit zur Reife benötigen – ein nicht zu unterschätzender Vorteil für die Merlot-lastigen Produzenten aus dem Libournais. Auch die Ausschanktemperatur der Muster spielt eine Rolle, wie der Kellermeister von Léoville-Las Cases betont: So sei es wichtig, die Médoc-Weine etwas wärmer zu servieren, damit deren Tannine nicht zu stark hervorträten, die Gewächse aus St-Emilion und Pomerol dagegen etwas kühler, weil sonst ihr höherer Alkoholgehalt dominiere. Die grossen Degustatio-nen der Union des Grands Crus fanden eine Woche vor unserem Bordeaux-Besuch statt – gewisse Weine sollen mehreren hundert Personen in einer festzeltähnlichen Atmosphäre bei weit über 25 °C kredenzt worden sein!

Schwieriges St-Emilion

Eine der schwächsten Regionen im Jahr 2006 war St-Emilion. Der hohe Merlot-Anteil und die stärkeren Regenfälle sorgten in vielen Fällen für Fäulnis und eine vorzeitige Lese. Unreife Trauben mit der nach wie vor verbreiteten Unsitte einer starken Extraktion führten zu sauer-bitteren Weinen mit hohem Alkoholgehalt – definitiv nicht das, was man von einem eleganten Bordeaux erwartet. Höchst problematisch präsentierten sich sämtliche Weine von Gérard Perse: unfreundlich mit harschen Tanninen bei-spielsweise das von Parker hochgelobte Bellevue-Mondotte, und auch Pavie wirkte vorerst eher übertrieben muskulös als feinsinnig, mehr eine martialische Figur aus einem amerikanischen Actionfilm als ein Landedelmann aus Aquitanien. Ein nuancierter, feiner Wein gelang indes Cheval-Blanc, und Angélus beeindruckte durch Kraft, Finesse und Tiefgang. Ausone schien heuer weniger imponierend; gut möglich, dass der hohe Cabernet-Franc-Anteil zum zurückhaltenden Auftritt beitrug.

Insgesamt einen besseren Eindruck gewannen wir im Pomerol, wo die Ernte etwa eine Woche vor jener in St-Emilion begann. Die nichts beschönigende Schilderung Alexandre Thienponts von Vieux-Château-Certan bildete erneut einen angenehmen Kontrast zum teilweise unverfrorenen Jubelgesang mancher Château-Manager. Um die notwendige Reife zu erzielen, las er deutlich später als andere, verlor dadurch aber einen Fünftel seiner Ernte. Im Keller sei es sehr schwierig gewesen, den richtigen Grad der Extraktion zu treffen: nicht zu wenig, weil sonst der Wein zu dünn wäre, nicht zu viel, um bittere, harte Gerbstoffe zu vermeiden. Auch auf Evangile gelang dem ehrgeizigen Jean-Pascal Vazart ein ausgezeichneter Wurf, dicht gefolgt von L'Eglise-Clinet und Clinet.Je weiter nördlich wir im Médoc gelangten,desto weniger sagten uns die Weine im Allgemeinen zu. Die Weine von St-Estèphe schmeckten recht derb und rustikal, der be-rühmte Cos-d'Estournel inbegriffen. Löbliche Ausnahmen bildeten Montrose und Phélan-Ségur. Auch in Pauillac degustierten wir manch harten, säurebetonten Wein. Sehr gelungen und verführerisch, mit reifen Tanninen, sind jedoch Latour und Mouton-Rothschild. Pontet-Canet und Lynch-Bages kelterten gleichfalls sehr erfreuliche Weine.

Am besten gefielen die Gewächse aus St-Julien. Exzellent ist Léoville-Las Cases, dicht, kraftvoll, klassisch, mit einer noblen, vielschichtigen Aromatik. Die Assemblage wurde gemäss Bruno Rolland einen Monat früher als sonst üblich zusammengestellt, was bewirkte, dass der Wein mehr Zeit im Barrique verbrachte. Einen finessenreichen, äusserst delikaten St-Julien brachte der stets fröhliche, umgängliche René Lusseau von Ducru-Beaucaillou hervor. Er stuft seinen 06er sogar höher ein als den 05er. Auch Gruaud-Larose und Léoville-Barton zählten zu den Lichtblicken des Jahres. Das früher so populäre Beychevelle enttäuschte einmal mehr.

Tiefere Preise

Obwohl Château Margaux – wie übrigens auch Lafite – im Keller seltsamerweise keine Traubensortiertische (table de tri) einsetzt, erzeugte Paul Pontallier einen der besten Weine des Jahrganges, der durch einen sublimen, finessenreichen Stil betörte. Palmer wirkte deutlich wuchtiger als Margaux, beinahe fett, war aber bei der Degustation eine Spur weniger nuanciert als der sehr gelungene Malescot-St-Exupéry. Im Graves brillierte einmal mehr Haut-Brion, wo man uns mitteilt, einen besseren Wein als 2004 erzeugt zu haben. Auch La Mission Haut-Brion und Pape Clément sind hervorragend. La-Tour Haut-Brion wird ab 2006 nicht mehr erzeugt und vollumfänglich in den La-Mission-Zweitwein «Chapelle» integriert,der durch eine hohe Qualität überzeugte. Die trockenen, weissen Graves sind sehr gut gelungen und wurden noch vor den Regenfällen Anfang September gelesen. Weniger Glück hatten die Erzeuger im Sauternes. Hier sollte mit einem Kauf auf alle Fälle bis nach der Flaschenfüllung zugewartet werden.

Die Preise für die berühmtesten 2005er waren so exorbitant, dass man sich ernsthaft fragen musste, ob sämtliche Beteiligten den Verstand verloren hatten. Wie so oft zeigten sich gewisse Parallelen zwischen Aktien- und Weinpreisen. So sind seinerzeit die häufig besseren 90er aufgrund der schlechteren Konjunktur zu markant tieferen Preisen verkauft worden als die 89er. Die hohen Preise des Jahrgangs 2005 waren letztlich nicht nur Ausdruck der sehr guten Qualität, sondern auch des Erfolges an den Finanzmärkten. Beim 2006er dürfte es selbst den grössten Zweckoptimisten nicht mehr möglich sein, einen Jahrhundertjahrgang herbeizureden. So bewegen sich die Preisvorstellungen trotz dem günstigen wirtschaftlichen Umfeld bis jetzt in vernünftigen Bahnen. Viele sprechen von einem 2004er Preisniveau, manche geben aufgrund der geringen Lager der Hoffnung Ausdruck, 10 bis 15 Prozent mehr verlangen zu können. Alle Beteiligten möchten jedoch Probleme wie mit den zu teuren 97ern vermeiden.

Keine Eile zum Kauf

Für den Konsumenten stellt sich die Frage, ob zum jetzigen Zeitpunkt eine Subskription lohnenswert sei. In den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass die Châteaux die maximal möglichen Preise bereits bei der Subskription ausreizten, mit dem Resultat, dass die Notierungen vieler Jahrgänge lange unverändert blieben. Erst letztes Jahr, im Sog der teuren 05er, zogen die Preise der älteren Jahrgänge deutlich an. Bei den meisten 06ern dürfte indes kaum Anlass zu besonderer Eile gegeben sein. Weil die Qualität sehr heterogen ist, empfiehlt es sich, erst einmal die Flaschenfüllung abzuwarten, um eine bessere Einschätzung der tatsächlichen Beschaffenheit des Jahrgangs vorzunehmen.

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