Schwanders Epfehlung: Bordeaux 2004, NZZ am Sonntag, 24. April 2005

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TEXT PHILIPP SCHWANDER

Einige Glanzlichter

Der Bordeaux 2004 sei ein durchschnittlicher Jahrgang, findet Philipp Schwander, der einzige Master of Wine der Schweiz

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Die alljährlichen Bordeaux-Primeur-Degustationen werden immer mehr zu einem Event für Weinhändler aus aller Welt. Sämtliche Châteaux sind herausgeputzt, viele erstrahlen im Glanz frisch abgeschlossener Renovationen oder aufwendiger Umbauten. Bei einigen Betrieben kann man sich des Eindrucks von «nouveau riche» nicht erwehren. Verzeichnete man bei den letztjährigen Degustationen rund 4000 Teilnehmer, sollen heuer bereits an die 5000 Personen gekommen sein. Wie der Direktor eines Premiers Crus mitteilte, erinnerte ihn sein Château zwischenzeitlich mehr an ein Festzelt als an einen Hort edler Weinkultur. Auch auf Château Margaux empfing man in fünf Tagen 1100 Besucher zur Fassprobe. Der Direktor Paul Pontallier gibt denn auch freimütig zu, dass für seinen Betrieb die Primeur-Degustation mittlerweile einen höheren Stellenwert als die Weinmesse Vinexpo in Bordeaux einnimmt. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass das Sauternes-Weingut Yquem erstmals seinen jüngsten Wein zur Degustation anbot. Der Produktionsleiter Francis Mayeur hofft, dass die Sauternes durch diese Massnahme wieder mehr Beachtung finden.

 Sicherlich hilft das Primeur-Spektakel den führenden Châteaux. Es ist jedoch insofern auch paradox, als die besten Bordeaux zu jenen Weinen gehören, die sich über viele Jahre entwickeln und deren Beurteilung in diesem frühen Stadium alles andere als hieb- und stichfest ist. Einerseits ist beim Produzenten die Versuchung gross, das Muster durch die Auswahl einer besonders gelungenen Partie zu beeinflussen, nicht zuletzt, weil eine positive Beurteilung

für die En-primeur-Verkäufe überlebenswichtig geworden ist. Andererseits sind die noch unfertigen Weine instabil. Aufgrund des vergleichsweise spät vollzogenen biologischen Säureabbaus und wegen des kaltenWetters präsentierten sich Mitte April teilweise dieselben Weine von Tag zu Tag höchst unterschiedlich.

Ertragreiches Jahr

Immer wieder auch gleicht der Versuch, den wahren Charakter eines Jahrgangs zu ermitteln, einer kleinen Detektivarbeit. Vor allem in schwierigeren Jahren ist es mühevoll, den Produzenten die entscheidenden Informationen zu entlocken. So verwundert es beispielsweise nicht, dass die schweren Regenfälle zwischen dem 10. und 20.Oktober in den Informationen der Châteaux meist keine Erwähnung finden, weil die Aufzeichnungen Ende September enden. Tatsache aber ist, dass sich die Ernte bis weit in den Oktober hinzog.

Müsste man das Jahr 2004 kurz und bündig charakterisieren, wäre wohl «viel und spät» – im Gegensatz zum 2003er «wenig und früh» – am ehesten angebracht. Tatsächlich ist die Ernte mit rund 7 Mio. hl eine der grössten überhaupt. Ein trockener, relativ warmer Winter führte dazu, dass dieWasserreserven weiter gering blieben. Eine kühle Periode zu Beginn des Frühjahrs verhinderte glücklicherweise, dass die Blütenknospen sich zu schnell entwickelten und Schaden durch Frühjahresfröste nehmen konnten. Bereits Ende April zeichnete sich ab, dass das Jahr äusserst ertragreich zu werden versprach. Wärmeres Wetter und etwas Regen Anfang Mai führten zu einer ungewöhnlich schnellen, homogenen Blüte. Spätestens Mitte Mai war absehbar, dass im Rebberg drastische Ertragsreduktionen vorgesehen werden mussten.

Viele Winzer, insbesondere von einfacheren Weingütern, waren nicht in der Lage, sich die notwendigen Arbeiten zu leisten, und hofften, mit einer reichen 2004er Ernte die tiefen Erträge und finanziellen Einbussen der letzten Jahre auszugleichen. Diese Entscheidung erwies sich im Nachhinein als fatal.

Juli und August waren vergleichsweise kühl und eher enttäuschend. Viele renommierte Châteaux setzten nun enorme Mittel ein, um den gewaltigen Behang auszudünnen. Mitte August führten zwei schwere Regenstürme dazu, dass die Stimmung unter den Produzenten auf einen Tiefpunkt sank. Die Niederschlagsmenge lag im gesamten August mit über 100 mm fast doppelt so hoch wie sonst üblich. Die Trauben schwollen an und bildeten ganze Pakete, die entsprechend fäulnisanfällig wurden. Bei den seriösen Châteaux folgte eine zweite sogenannte «vendange verte». Gerade dieses Ausdünnen war wichtig, weil es die Chancen erhöhte, dass die verbleibenden Trauben ausreifen konnten und diese nicht durch dicht dahinter liegende Trauben beeinträchtigt wurden. «Bei anhaltend schlechtem Wetter wäre jedoch auch bei sorgfältiger Arbeit mit einer Katastrophe zu rechnen gewesen», sagte ein Winzer.

Wie 1986 und 2002 brachte der Monat September die Rettung. Ein Azorenhoch sorgte vom 31.August bis zum 10. Oktober für mehr oder weniger anhaltend schönes, niederschlagsarmes Wetter. Die erste Woche September war sogar ausgesprochen warm mit drei Tagen über 30 °C. In der dritten Septemberwoche reduzierte sich dann das Gewicht der Traubenbeeren, die durch den Regen im August so aufgebläht wurden. Jene Produzenten, die den Behang ausgedünnt hatten, besassen gesunde Trauben mit dem Potenzial, weiter zu reifen. Alle anderen waren gezwungen, vor der Reife Mitte September zu lesen, weil sich ihre Trauben bereits in sehr schlechtem Zustand befanden. Mancher dieserWinzer liess die Hälfte der Ernte am Stock, weil die Erträge sonst an die 100 Hektoliter pro Hektare betragen hätten.

Die führenden Châteaux fingen mit der Lese des Merlots um den 24. September herum an. Doch auch dies war häufig noch zu früh. Charles Chevallier von Lafite-Rothschild berichtete, dass sie am 24. September mit der Ernte

beginnen wollten, dann aber sogleich entschieden, länger zuzuwarten. Insgesamt unterbrachen sie die Lese dreimal, weil die notwendige Reife noch nicht erreicht war. Dank ausgeklügelter Logistik war Lafite-Rothschild in der Lage, seine 350 Lesehelfer kurzfristig aufzubieten.

Weniger renommierte Châteaux mit bescheideneren finanziellen Mitteln konnten sich einen solchen Aufwand nicht leisten und lasen kaum zum optimalen Zeitpunkt. DerWetterumschlag kam am Sonntag, dem 10. Oktober. Bis zum 20. Oktober fielen zwischen 60 und 90 mm Regen; die Ernte dauerte im Médoc bei manchen Betrieben bis zum 15. Oktober und länger.

Grosser Palmer

Aufgrund der kühleren Witterung und der überdurchschnittlichen Erträge bewegen sich die Weine vom Stil her in einem Bereich, der mehr an die tanninbetonten Jahrgänge 1986, 1988 oder 1998 erinnert – völlig im Gegensatz zu den üppigen, reichhaltigenWeinen der sonnenverwöhnten Jahre 1989, 1990 oder 2003. Wer über die Mittel verfügte, den Ertrag im Rebberg zu reduzieren, erzeugte ausgezeichnete Weine, die auf eine besonders schöne Weise ihre Herkunft reflektieren. Wer weniger sorgfältig arbeitete, erntete vor allem beim Cabernet-Sauvignon ungenügend ausgereifte Trauben.

Die Degustation vieler Weine mit harten Tanninen und einer hohen Säure lässt vermuten, dass entgegen den Lippenbekenntnissen oft doch zu wenig seriös im Rebberg gearbeitet wurde. Ein anschliessendes «saignée», das vorzeitige Abziehen eines Teils des Saftes während der Gärung, um den verbleibenden Most aufzukonzentrieren, betonte zudem gerade bei dünnen, unreifen Weinen die derben Tannine.

Viele Produzenten sind besonders mit dem Merlot zufrieden, was nahelegen würde, dass St-Emilion und Pomerol besser als das Médoc abgeschnitten hätten. Allerdings profitierten die bekannten Gemeinden im Médoc von deutlich geringeren Regenfällen im August (40 mm gegenüber häufig 80 mm im Libournais). So findet man schliesslich auf beiden Seiten der Gironde sehr gelungene Weine. Von den «vins de garage» indes spricht niemand mehr. 

Einige der schönsten Weine degustierten wir im Médoc. Hier fühlten wir uns an die alten Zeiten erinnert; Bordeaux wie aus dem Bilderbuch! Die Gerbstoffe sind zwar allgemein massiver als in St-Emilion und Pomerol, aufgrund der sorgfältigen Rebbergarbeit sind jedoch bei den führenden Weingütern selten grüne Tannine festzustellen. Die Gemeinde Margaux brillierte mit Château Palmer, das sicher einen der besten Weine des Jahrgangs hervorgebracht hat. Der Direktor Bernard de Laage strahlte zu Recht übers ganze Gesicht. Ihm und seiner Equipe gelang ein Wein von betörender Dichte und Komplexität, der mit einer für Palmer unüblichen Wucht überraschte. Paul Pontallier von Château Margaux vergleicht seinen ausgezeichneten 2004er mit dem 1996er. Der Wein begeisterte durch sublime Eleganz und grosse Länge; bestechend die Frische und Reinheit der Aromen.

Der klare Favorit in der Appellation St-Julien war Ducru-Beaucaillou, das einen köstlichen Wein vom Kaliber eines 96ers erzeugte: eine überaus delikate, tiefgründige Frucht, kombiniert mit Konzentration und männlichen Gerbstoffen. Auch Léoville-Barton brachte einen prächtigen, jedoch tanninreichen Wein hervor. In Pauillac übertraf die Zahl guter Weine diejenigen der Gemeinde Margaux deutlich. Interessanterweise wirkten aber sämtliche Premiers Crus vergleichsweise verhalten, wenn auch sehr harmonisch und distinguiert. Gut möglich, dass die Degustation zu früh stattfand. Latour war elegant und überraschend geschmeidig, liess jedoch die übliche Kraft und Dichte vermissen. Mouton-Rothschild überzeugte durch eine gute Substanz, schien aber noch etwas uneinheitlich. Auf Lafite-Rothschild vinifizierte der stets gut gelaunte Charles Chevallier einen virilen, dichten Wein, was angesichts des Anteils von 90% Cabernet Sauvignon wenig überrascht. Pichon-Baron erzeugte erneut einen mächtigen, beeindruckenden Wein. Pontet-Canet bestätigte seine letztjährige gute Form.

In St-Estèphe entstand unter der Ägide von Jean-Louis Charmolüe ein ungemein üppiger, wuchtiger Wein, der ohne jeden Zweifel zu den Jahresbesten zählt. Fast auf ähnlich hohem Niveau dürfte Cos-d'Estournel liegen, das auch erstmals einen erstaunlich gelungenen, unbekannten Médoc aus der Nähe des Hafens von Goulée im Norden des Médocs vorstellte.

Im Libournais präsentierten sich die Weine – nicht zuletzt aufgrund der vorherrschenden Merlot-Traube – insgesamt geschmeidiger und weniger massiv. Neben dem Merlot reüssierte auch der Cabernet Franc. Einen vielschichtigen, geradezu sublimen Wein von den ältesten Reben des Weinguts degustierten wir bei Alexandre Thienpont auf Vieux Château Certan. Rund zwei Drittel der Ernte wurde im Juli und August herausgeschnitten. Jean-Pascal Vazart von Evangile erfreute uns mit einem fast burgunderähnlichen, kraftvollen Wein, der eine feine, reife «Süsse» besass. Erstmals wurde der neue Keller benutzt, der die separate Vinifikation jeder Parzelle ermöglicht.

Tiefere Preise?

Gleichfalls auf hohem Niveau war Château Angélus mit einem fleischigen, schlichtweg köstlichen Geschmack. Wie gewohnt gehörte Alain Vauthier mit Château Ausone zu den Jahrgangsbesten. Der Wein war unglaublich massiv und maskulin. Dagegen wirkte der Cheval-Blanc noch vergleichsweise verhalten. In der Graves-Region überzeugten die Weine durch ein gutes Niveau. Auf Haut-Brion bekennt man freimütig, dass man den 2004er über den 2003er stelle. Der Wein ist nachhaltig und tiefgründig und dürfte als ein «kleiner 2000er» durchgehen. Wie bereits im letzten Jahr gelang Domaine de Chevalier ein unüblich guter Wein. Von Yquem abgesehen, das einen delikaten Wein hervorbrachte, wirkten die meisten Sauternes zwar sehr süss; es schien ihnen aber die notwendige Säure und Finesse zu fehlen. Der Jahrgang 2004 brachte bei den meisten gesuchten Weinen fast die doppelte Menge gegenüber dem Vorjahr. Nachdem der Dollar in den letzten zwei Jahren gegenüber dem Euro beinahe 20Prozent verloren hat und bei den Händlern noch grosse Mengen 2001er und 2002er an Lager sind, müssten die Preise eigentlich mindestens auf das Niveau der 2002er sinken, auch wenn die Qualität höher einzustufen ist.

Ob dies die erfolgsverwöhnten Châteaubesitzer einsehen werden, ist aber fraglich. Gruaud-Larose bot seinen 2004er bereits für 22.25 Euro an; der 2002er kostete 19.50 Euro. Mehrere Verantwortliche liessen verlauten, dass der Preis in erster Linie der Qualität und nicht der verfügbaren Menge entsprechen müsse.

Dass diese sehr spezielle Auslegung der marktwirtschaftlichen Sicht auf Dauer auch sämtliche Kunden überzeugt, darf ernstlich bezweifelt werden. Tatsache ist, dass sich die Subskription für den Konsumenten letztmals beim Jahrgang 1995 wirklich rechnete. Ab 1996 stiegen die Preise auf ein bisher nie erreichtes Niveau. Faktisch veränderten sich die Verkaufspreise nach Auslieferung der Weine auch nicht mehr merklich, in vielen Fällen sanken sie sogar. Wie aus der nebenstehenden Tabelle hervorgeht, ist die Subskription, rein rechnerisch gesehen, in den meisten Fällen ein Verlustgeschäft geworden.

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