Schwanders Empfehlung: Bordeaux 2017, NZZ am Sonntag, 05. Mai 2018

TEXT PHILIPP SCHWANDER

Unbestritten waren 2016 und 2015 zwei ausgezeichnete Jahrgänge im Bordelais. 2017 hingegen wird als das Jahr des grossen Frosts in die Geschichte eingehen. Wie in zahlreichen europäischen Weinregionen erlitten auch in Bordeaux Teile des Anbaugebietes empfindliche Schäden. Insgesamt liegt die Erntemenge rund 40 Prozent tiefer als 2016 und 33 Prozent tiefer als im 10-Jahres-Durchschnitt. Qualitativ ist das Jahr äusserst heterogen. Es ist daher nicht möglich, eine präzise Einstufung vorzunehmen; feststellen lässt sich einzig, dass 2017 kein grosser Jahrgang ist.

Für ein besseres Verständnis der Weinqualität empfiehlt es sich, einen Blick auf den Wetterverlauf zu werfen, den man als recht dramatisch bezeichnen darf. Bereits der Winter zeigte sich unüblich warm. So vermerkte der Weinhändler Bill Blatch in seinem Jahrgangsbericht, dass man in Bordeaux Weihnachten auf der Veranda verbringen konnte. Im Gegenzug war der Januar der kälteste seit dreissig Jahren! Doch schon im Februar kehrte die Wärme wieder zurück. Die anhaltend milde Witterung liess bereits Mitte März erahnen, dass der Vegetationsbeginn sehr früh einsetzen würde, denn im April wurden Temperaturen von gegen 30 Grad gemessen. Als die erste Frostwelle am Morgen des 20. und 21. April hereinbrach, war der Austrieb weit vorangeschritten. Da es zu diesem Zeitpunkt sehr trocken war, wurden vergleichsweise wenige Schäden registriert; bei trockener Witterung treten diese erst ab etwa minus 2 Grad auf, bei höherer Feuchtigkeit können sie bereits ab 0 Grad entstehen.

Frost Ende April

Unglücklicherweise wurde es dann aber massiv feuchter, und in der Nacht vom 26. auf den 27. April fielen die Temperaturen deutlich unter 0 Grad, teilweise bis auf minus 6 Grad. Auch die folgenden zwei Nächte war es eisig kalt – zahlreiche Rebberge sahen nach dieser Kältewelle übel zugerichtet aus. Wie der grosse Weinkenner und passionierte englische Winzer Gavin Quinney in Bordeaux auf seiner detaillierten Karte aufzeigt, wurden die grössten Schäden in einem Korridor vom Blayais im Norden bis hin zur Barsac-Region verursacht. Im Entre-Deux-Mers verloren zahlreiche Winzer die gesamte Ernte, und auch in Lalande-de-Pomerol waren die Ausfälle verheerend. Dabei traf es in den meisten Fällen die weniger guten Lagen. Die besseren, geschützten Parzellen entgingen dem Frost teilweise komplett. Insbesondere die berühmten, nahe der Gironde gelegenen Grand-Cru-Rebberge in St-Julien, Pauillac und St-Estèphe hatten meist nur geringe Frost- probleme. Das Ausmass des Frosts war insge- samt gewaltig, grösser noch als 1991 und 1977. Anders als 1991 jedoch kehrte die warme Witterung rasch zurück, und Mitte Mai begann die Blüte.

Ab diesem Zeitpunkt wurde die Arbeit für manche Winzer ausserordentlich schwierig, insbesondere dort, wo nur ein Teil des Reb- berges vom Frost heimgesucht worden war.

So gab es Stöcke mit ganz oder nur teilweise erfrorenen Schösslingen, auch entwickelten sich sogenannte Zweitgenerations-Schösslinge, deren potenzielle Reife aber zwischen zwei und vier Wochen hinter der regulären lag. In solchen Fällen ist es notwendig, die Stöcke entspre- chend zu markieren, weil später während der Lese die Trauben der ersten und zweiten Generation optisch fast nicht zu unterscheiden sind – obwohl ihre Qualität extrem unterschied- lich ist. Der Mai war der wärmste seit 1950, zwischen dem 24. und 29. lagen die Tages- temperaturen konstant über 30 Grad. Die Blüte verlief in den meisten Fällen problemlos und etwa drei Wochen früher als üblich. Rebstöcke, die vom Frost heimgesucht worden waren, brauchten allerdings deutlich mehr Zeit, um wieder in die Wachstumsphase zu gelangen. Der Juni zählte zu den wärmsten seit 1959, zwischen dem 19. und 22. lagen die Tagestemperaturen über 36 Grad! Ab dem 26. Juni gab es massive Niederschläge: In fünf Tagen fielen beinahe 100 Millimeter Regen, der jedoch die Entwick- lung nicht behinderte und wegen der Trocken- heit sogar sehr willkommen war.

Die Region scheint sich wieder mehr auf Eleganz denn auf schiere Kraft zu besinnen

Kühler Sommer

Wie 2011 zeigten sich Juli und August, von wenigen Ausnahmen abgesehen, deutlich kühler. Es blieb zwar weitgehend trocken, Kommentatoren sprachen aber von einer fast herbstlichen Stimmung! So verzeichnete man im Juli sogar weniger Sonnenstunden als in einem durchschnittlichen September. Der Farbumschlag (véraison) der vom Frost verschonten Reben fand bereits Ende Juli statt, rund zehn Tage früher als üblich. In den anderen Rebbergen zog sich der Farbwechsel jedoch bis weit in den August hinein.

Zu allem Unglück hagelte es am 27. August in der Nähe von Podensac im südlichen Graves, das bereits vom Frost heimgesucht worden war. Bis zum 21. August blieben die Nächte unüblich kühl, danach wurde es glücklicherweise wieder deutlich wärmer. Verschwiegen wird allerdings meist, dass es während der Hauptleseperiode bis Mitte September regnerisch und nicht besonders warm war. Ab dem 18. September wechselte das Wetter erneut, was besonders vorteilhaft für den später reifenden Cabernet war. Bei der Degustation der Muster zeigte sich denn auch, dass diese kühlen Perioden den Stil des 2017ers prägen.

Der Stil des 2017ers

Offen gestanden haben mich viele 2017er nicht sonderlich beeindruckt. Es gibt zahlreiche korrekte, hochanständige und viele bescheidene Weine, aber nur sehr wenige Gewächse, die wirklich herausragend sind. Das Merkmal zahlreicher 2017er ist ihre markantere Säure und bescheidenere Reife. Allerdings sind die Tannine recht rund, und grüne, unreife Noten sind kaum spürbar. Dass eine ausreichende Reife trotzdem nicht immer erzielt werden konnte, ist bei manchen Weinen herauszukosten. Die Üppigkeit und Kraft der 2015er und 2016er findet man beim 2017er nicht, die Aromatik wirkt kühl. Häufig erinnern die Weine an einen Durchschnittsschüler, der sich zwar redlich bemüht, aber nicht über eine ordentliche Note hinauskommt.

Bei Vergleichen wurden oft 2014 und 2001 genannt, wobei mir einige Parallelen zum 2001er recht plausibel erscheinen. Jedoch dürfte es auch zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem sich derzeit unfreundlich präsentierenden, wohlweislich von keinem Produzenten erwähnten 2011er geben, zumal die beiden Jahre manche Übereinstimmung im Wetterverlauf aufweisen. So erfolgte der Austrieb auch 2011 frühzeitig, mit sommerlichen Temperaturen im Frühjahr und einem unüblich kühlen Sommer. Einige ganz wenige Châteaux – wie beispielsweise Latour und Palmer – erzeugten 2017 wirklich bemerkenswerte Weine. Das Spektrum ist also enorm, generell aber ist die Reife nicht sehr ausgeprägt, und auch Charme ist nicht das Merkmal dieses Jahrgangs – eine weitere Gemeinsamkeit mit dem 2011er. Erfreulicherweise scheint sich die Region – seit Robert Parker sich zurückgezogen hat – wieder mehr auf Eleganz denn auf schiere Kraft zu besinnen. Diesen behutsamen Paradigmenwechsel konnte man bei manchen Châteaux beobachten.

Médoc

Das Leben ist ungerecht! So blieben die berühm- ten Crus Classés mehrheitlich vom Frost verschont. Die Nähe zur Gironde bewirkte, dass die Temperaturen nicht zu tief sanken. Infolge- dessen ernteten die Gemeinden Pauillac und St-Estèphe genauso viel wie im ergiebigen Jahr 2016. Qualitativ dürfte allerdings Pauillac klar die Nase vorn haben. Wie uns Charles Fournier von Pichon-Lalande mitteilte, lagen die September-Niederschläge auf ihren St-Estèphe-Gütern bei zirka 120 mm, in Pauillac dagegen lediglich bei etwa 75 mm. Dies bestätigte auch die Verkostung: Abgesehen von Calon-Ségur, das einen höchst erfreulichen Wein hervor- brachte, gelangen sowohl Montrose als auch Cos d’Estournel keine grossen Erzeugnisse.

Cos wirkte zwar voll, besass aber auch eine markante Säure und recht strenge Tannine. In Pauillac war unser Favorit eindeutig Château Latour: ein exzellenter, klassischer, männlicher Wein, der sicher zu den allerbesten des Jahres gehört. Hélène Génin, die technische Direkto- rin, stellte Frost lediglich auf einer für den normalen Pauillac-Wein verwendeten Parzelle fest. Auch bei Latour erforderten die Regenfälle im September eine sehr sorgfältige Lese.

Ebenfalls sehr gelungen ist Mouton-Roth- schild, das ein nobles, noch etwas zurück- haltendes Gewächs erzeugte. Der qualitative Unterschied zu den hauseigenen Gütern Clerc-Milon und Armailhac war 2017 indes unüblich gross. Dafür war der weisse Mouton ausnehmend gut. Gleichfalls höchst zufrieden darf der energiegeladene Jean-Michel Comme sein, dem ein voller Pontet-Canet mit herrlicher Frucht und geradezu sanften Tanninen gelun- gen ist. Er und sein Patron Alfred Tesseron zählen zu den bemerkenswertesten Akteuren im Médoc. Man spürt bei ihnen den Willen, zu den Besten zu gehören und einen wirklich naturnahen Rebbau zu betreiben.

Sehr unprätentiös und angenehm ist auch Eric Kohler, der neue Lafite-Direktor. Er vergleicht den 2017er mit dem 2001er und stuft ihn interessanterweise höher als den 2014er und 2015er ein. Christian Seely von Pichon- Baron zeigte uns einen dichten, komplexen, äusserst seriösen Rotwein. Die runden Tannine führt er auf die tiefen Erträge um die 30 hl/ha zurück. Manche hätten mehr geerntet, das sei bei der kühlen Witterung aber nicht ideal gewesen. Ebenfalls zu den guten Weinen der insgesamt erfolgreichen Gemeinde Pauillac zählt zweifelsohne Lynch-Bages, dessen Equipe ein muskulöses, herzhaftes Gewächs gelang.

St-Julien und Margaux

Weniger glücklich unterwegs war man in St-Julien. Obwohl nicht viele Güter vom Frost betroffen waren und die Erträge sich im üblichen Rahmen bewegten, fehlt es den Weinen oft – wie beispielsweise Talbot oder Branaire-Ducru – ein bisschen an Reife. Überraschend schön ist Langoa-Barton, das wir gegenüber dem Schwestergut Léoville-Barton bevorzugten. Elegant, beinahe fruchtig, mit einer saftigen Säure war Ducru-Beaucaillou, das einen respektablen, aber sicher nicht grossen Wein präsentierte. Am besten bewerteten wir Léoville-Las Cases, mit einem zwar sehr strengen, aber ungemein distinguierten Wein. Stärker vom Frost in Mitleidenschaft gezogen wurde die südlichste Médoc-Gemeinde Margaux. So lagen die Durchschnittserträge nur bei 32 hl/ha (St-Estèphe 49,7 hl/ha). Auch auf Château Margaux waren 8 von insgesamt 82 Hektar vom Frost betroffen, wie uns der Direktor Aurélien Valence mitteilte. Er war über- rascht von der Konzentration seines 2017ers, besonders die Cabernet sind erfreulich gelun- gen. Sie wurden denn auch später, während der Schönwetterperiode gelesen. Der Wein ist ungemein subtil und verfeinert und besitzt eine gute Kraft, auch der Pavillon Rouge und der Pavillon Blanc gefielen uns ausnehmend gut.

Einmal mehr eines der besten Erzeugnisse des Jahrgangs kosteten wir bei Thomas Duroux, dem dynamischen Direktor von Château Palmer. Fast hat es den Anschein, dieser aussergewöhnlich voluminöse, noble Wein stamme aus einem anderen Jahrgang! Duroux ist eine beeindruckende, sehr kompetente Erscheinung. Er bedauert, dass viele im Bordelais aufgrund der grossen Tradition des Gebiets zu wenig experimentierfreudig seien. So überzeugte er erstmals 2004 die Palmer- Eigentümer, einen Versuch zu wagen, und füllte in kleinen Mengen einen Palmer mit rund 15 Prozent Syrah, so wie früher in Bordeaux gängig, als man dem Wein ein wenig Hermitage von der nördlichen Rhone zusetzte. Ebenfalls gelungene Gewächse degustierten wir von Issan, Brane-Cantenac und Marquis de Terme. Sehr fein, aber etwas leicht war Rauzan-Ségla.

Libournais

Das rechte Ufer litt deutlich stärker unter Frostschäden, was unschwer an den deklarier- ten Erträgen erkennbar ist. Erntete man in St-Emilion 2016 46 hl/ha, wurden 2017 lediglich 21,7 hl/ha erreicht. Auch in Pomerol halbierten sich die Erträge nahezu. Wie uns Ronan Laborde, der Eigentümer von Clinet, mitteilte, blieben von insgesamt 800 Hektar in Pomerol nur 200 ohne Frostschäden; 300 Hektar verzeichneten einen kompletten Ernteausfall, auf weiteren 300 wurde nur die Hälfte gelesen. Von seinen 17 Parzellen sei glücklicherweise nur eine betroffen gewesen. Wir waren denn auch von Clinet äusserst überzeugt. Olivier Berrouet von Pétrus war zu Recht sehr zufrieden mit seinem 2017er, seinen Optimismus, diesen Wein auf dasselbe Niveau wie 2015 und 2016 zu stellen, teilen wir indes nicht. Wie andere auch, betonte er die Bedeutung einer behutsamen Extraktion, weil die Beeren sehr klein waren.

Weniger reif wirkten heuer La Conseillante und Vieux Château Certan, das einen klassischen, etwas säurebetonten Wein erzeugte. In St-Emilion begeisterten uns Angélus und Cheval- Blanc, wohingegen Canon zwar fein, aber ein bisschen leicht ausfiel. Pauline Vauthier zeigte uns einen vollen, ausgewogenen Ausone, der sicher zu den Jahrgangsbesten zählt; in diese Kategorie gehören auch Figeac, Péby Faugères und Beau-Séjour Bécot sowie der intensive, vollmundige La Mondotte von Stephan von Neipperg. Enttäuscht waren wir hingegen von Quintus, dem neuen St-Emilion-Weingut der Haut-Brion-Equipe, das aus den ehemaligen Weingütern Arrosée und Tertre Daugay besteht.

Graves und Sauternes

Die Sauternes-Gegend, insbesondere die tiefer liegenden Rebberge und jene in Barsac, wurden besonders hart vom Frost getroffen. Climens und Coutet erzeugten beispielsweise nur ganz wenig Wein. Auch Myrat, das ein frisches, elegantes Muster präsentierte, verlor 85% der Ernte. Alles in allem besitzen die Süssweine aber eine gute bis sehr gute Qualität, ähnlich etwa den ausgezeichneten 2011ern oder 2007ern, mit einer für diese Weine äusserst wichtigen Säure. Auch die Graves-Region kam nicht ungeschoren davon, stellenweise wurde sie sogar von einem Hagelsturm heimgesucht. Insgesamt überzeugte die Appellation mit robusten, kernigen Rotweinen. Besonders gefiel uns der elegante Haut-Bailly von Véronique Sanders, deren Zweitwein La Parde ein Geheimtipp sein dürfte, sowie einmal mehr Domaine de Chevalier, das in den letzten Jahren die Qualität der Rotweine stark verbesserte. Auch Smith Haut Lafitte gelang ein schöner Wein, und Pape Clément beeindruckte mit einem männlichen, wuchtigen Gewächs. Weniger voll, aber gleichfalls sehr hochwertig und nobel wirkten Haut-Brion und La Mission Haut-Brion, beide hatten keine Frostprobleme, und die Weissen fielen prächtig aus.

Der Markt

Die meisten sind sich einig, dass die grossen roten 2017er Bordeaux deutlich preiswerter verkauft werden müssen als die Jahrgänge 2016 und 2015. Nur zu ungern erinnert man sich an den 2011er, der zu teuer angeboten wurde. Bis jetzt sind allerdings noch nicht viele Weine auf den Markt gekommen, Château Palmer setzte mit einer Reduktion von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr glücklicherweise ein sehr erfreuliches Signal. Allzu dramatisch dürften die Preisreduktionen indes nicht ausfallen, da die Nachfrage insgesamt sehr gut ist, wenig geerntet wurde und keine grossen Mengen vorhanden sind. So haben die Preise der einfachen Bordeaux markant angezogen. Der zweitgrösste Händler in Bordeaux bestätigte die gute Marktlage und liess durchblicken, dass die Chinesen seit Neuem auch Bordeaux in der Preisklasse zwischen 15 und 40 Euro nachfragen. Noch vor wenigen Jahren konzentrierten sie sich nur auf die berühmtesten Châteaux. Gegenwärtig erscheint es dennoch mehr als fraglich, ob eine Subskription für den Weinfreund ratsam ist. 2017 wird nie ein wirklich gesuchter Jahrgang werden, und es ist davon auszugehen, dass er auch nach seiner Füllung nicht stark im Preis steigen wird.

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