Schwanders Empfehlung: Bordeaux 2016, NZZ am Sonntag, 01.Mai 2017

 TEXT PHILIPP SCHWANDER

Kündigt Bordeaux einen guten Jahrgang an, bin ich a prima vista sehr skeptisch. Zu oft schon verkauften uns die Bordelais einen mittelmässigen Jahrgang als Jahr­ hundertereignis. Beim 2016er sind die Vorschusslorbeeren jedoch gerechtfertigt – im Vergleich zu anderen Regionen Frankreichs, die von Frost und Hagel heimgesucht wurden, profitierte Bordeaux von einer ausgeprägten Glückssträhne. Ähnlich wie 2009 und 2010 wird es zudem über die Jahre hinweg spannend sein, zu verfolgen, ob der 2015er oder der 2016er obenauf schwingt. Freunde des klassischen, finessenreichen Bordeauxweines sollten den jüngsten Jahrgang auf alle Fälle im Auge behalten.

Wie gewohnt empfiehlt sich ein Blick auf den meteorologischen Verlauf der Vegetationsperiode. Völlig ungewöhnlich – und in die­ sem Ausmass vermutlich noch nie da gewesen – sind die klimatischen Extreme: In der ersten Jahreshälfte war es feucht und unbeständig, in der zweiten sehr trocken und warm. Die Mutmassungen einiger Journalisten, dies sei auf das Klimaphänomen El Niño auf der Südhalbkugel zurückzuführen, treffen jedoch nicht zu: Die Effekte von El Niño sind in Europa, wenn überhaupt zu spüren, marginal.

In den ersten sechs Monaten bis und mit Juni regnete es im Bordelais oft und kräftig. So brach der Januar mit 230 Millimetern Niederschlag alle Rekorde und soll gar der regenreichste seit 1920 gewesen sein. Auch im März reg­ nete es heftig, und selbst der Mai lag über dem langjährigen Schnitt. Der Falsche Mehltau war allge­ genwärtig und die konsequente Bekämpfung der Pilzkrankheit ein Muss. Zum Glück verhinderte die kühle Witterung Anfang März einen verfrühten Austrieb – gravie­ rende Ernteausfälle wegen Frosts wie in der Loire und dem Burgund hätten die Folge sein können. So bildeten sich die Knospen erst ab dem 20. März, in einem Zeit­ fenster, in dem es relativ warm war. Der Fruchtansatz war meist homogen, was für die spätere Qualität massgeblich ist, da dies für eine gleichmässige Ausbildung der Trauben sorgt. Im Gegensatz zu anderen Regionen lagen die Temperaturen zwar teilweise tief, aber nicht tief genug, um Schäden zu verursachen.

Im April wechselten sich Wärme und Kälte ab, und die Regenfälle liessen zur Freude aller ein wenig nach. Auch der Mai blieb schwierig, aber die Heimsuchungen, mit denen andere Regionen Frank­ reichs zu kämpfen hatten, blieben Bordeaux erspart. Dann – ein aber­ maliges Glück – blieb das Wetter zwischen dem 2. und 11. Juni recht stabil, was zu einer vergleichsweise raschen und einheitlichen Blüte führte. Es darf als kleines Wunder bezeichnet werden, dass sich die zuvor derart schlechte Witterung ausgerechnet in diesem wichtigen Zeitabschnitt beruhigte!

Dennoch sind viele vom har­ monischen Verlauf der Blüte über­ rascht, wie auch Jean­Philippe Delmas vom Château Haut­Brion betont. Und abermals geschah ein kleines Mirakel: Um den 23. Juni herum (Brexit) schlug das regneri­ sche Wetter unversehens um, und es blieb mit Temperaturen, die von unter 20 auf deutlich über 30 Grad hochschnellten, bis zum 13. Sep­ tember trocken und warm.

Nun erwiesen sich die zahl­ reichen Niederschläge in der ersten Jahreshälfte als wahrer Segen, denn nachdem im Juli und August insgesamt nur gerade 19 Millimeter Regen – gegenüber 107 im langjäh­ rigen Durchschnitt – fielen, wären die Wasserreserven rasch aufge­ braucht gewesen, und die Reben hätten massiv unter der Trocken­ heit gelitten. Die Temperaturen waren im Juli moderat, der August hingegen zeigte sich zeitweise extrem warm und brachte zwei Hitzewellen. Umso erstaunlicher ist es, dass ausser bei jungen Reben oder Stöcken auf durchlässigen Böden nur wenig Trockenschäden zu verzeichnen waren.

Und nochmals half die Glücks­ fee: Während der véraison, des Farbumschlags der Trauben, fielen am 30. Juli und 4. August einige kleine Niederschläge, just im rich­ tigen Moment, um die Reifeblo­ ckaden zu mildern. Ein weiterer, wichtiger Umstand waren die unüblich hohen Tag­Nacht­Tem­ peraturunterschiede von bis zu 20 Grad. Dies ist sicher einer der Hauptgründe für die gute Säure und Eleganz der 2016er.

Rettender Regen

In der Nacht des 13. Septembers öffnete dann der Himmel seine Schleusen, dies gerade noch recht­ zeitig, um die vielerorts stagnie­ rende Entwicklung durch das dringend benötigte Wasser wieder in Gang zu bringen. Zugleich fiel die Temperatur um zirka 10 Grad. Der Regen und der dadurch aus­ gelöste Reifeschub führten

dazu, dass die Trauben zwar nach wie vor viel, jedoch sehr reifes Tannin enthielten. Im Zusammen­ spiel mit dem tieferen Alkohol­ gehalt und der höheren Säure resultierten Weine mit grosser Eleganz und einer klassischen, kühlen Fruchtigkeit.

Kleine Regenfälle am 30. Sep­ tember wirkten ebenfalls unter­ stützend, allerdings war es zu jenem Zeitpunkt bereits markant kühler, und die Reifung schritt ent­ sprechend langsamer voran. Mitte Oktober liess sich keine Verbesse­ rung mehr erzielen, und die meis­ ten Cabernets wurden eingebracht. Das Traubengut war gesund, Sor­ tiertische benötigte man kaum.

Die Qualität

Unabhängig von den Lobgesängen der Bordelaiser Produzenten ist es immer reizvoll, herauszufinden, was wirklich hinter dem neuen Jahrgang steckt. Oft hilft ein Blick auf die Basisweine. Bei diesen können die Winzer keine aufwen­ digen Selektionen vornehmen. Sie widerspiegeln denn auch meist die wahre Qualität eines Jahres. Es war deshalb beruhigend, festzustel­ len, dass die Qualität der einfachen Weine 2016 höchst erfreulich ist. Im Vergleich zu 2015 sind diese aller­ dings weniger üppig, dafür frischer und klassischer, mit abgerundeten Gerbstoffen. Erreichten die Merlots 2015 oft 15 Prozent Alkohol und die Cabernets 14 Prozent, lagen sie 2016 meist 1 Prozent tiefer. Für biologisch arbeitende Wein­ bauern war das feuchte Frühjahr eine Herausforderung und ver­ langte einen hohen Arbeitseinsatz. Leichte, karge Böden – wie etwa in Margaux – verursachten wegen der Trockenheit mehr Probleme als das tonhaltigere Terrain in St­Estèphe. Man gewann auch insgesamt den Eindruck, dass im Bordelais die Zeit der Frucht­ und Alkoholbom­ ben vorbei ist und viel sorgfältiger extrahiert wird.

Trotz der Trockenheit gelangen in der Gemeinde Margaux einige ausgezeichnete Gewächse; all­ gemein dürften dort die 2015er jedoch besser sein. Sehr erfreulich ist die Qualitätsentwicklung auf Issan und Brane­Cantenac; aber auch Prieuré­Lichine vermochte, wie schon im vergangenen Jahr, sehr zu gefallen. Bei den weniger bekannten Crus sollte man Labé­ gorce im Auge behalten. Den vielleicht besten Wein der Appella­ tion kelterte das Château Palmer – allerdings erreicht er nicht ganz das Niveau des superben 2015ers. Direktor Thomas Duroux beschrieb den 2016er im Vergleich zum opu­ lenten 2015er als «intellektuell».

Auf Château Margaux präsentierte uns der neue Direktor Philippe Bascaules einen sehr feinen, aus 94 Prozent Cabernet­Sauvignon bestehenden Wein. Bascaules arbeitete früher bereits 21 Jahre auf Château Margaux und kümmerte sich danach um Francis Ford Cop­ polas Weingut im Napa Valley.

Erfolgreicher Médoc

In St­Julien begeisterten Ducru­ Beaucaillou und Léoville­Poyferré, dicht darauf folgen Léoville­Barton und Talbot. Léoville­las­Cases gelang ein nobler, distinguierter Wein, der sich bereits erstaunlich zugänglich zeigte. Für den Maître de Chai Bruno Rolland ist der aktuelle Jahrgang ein moderner 1986er. Seit der Mitbeteiligung von Suntory, dem auch Lagrange gehört, scheint Château Beyche­ velle wieder auf dem aufsteigen­ den Ast zu sein. Zahlreiche gute Erzeugnisse degustierten wir in Pauillac, wobei bei den Premier Crus Château Lafite­Rothschild einmal mehr das Schlusslicht bildete. Es wäre begrüssenswert, wenn der inzwischen 112 Hektaren grosse Betrieb etwas strikter selek­ tionierte.

Grossartig gelungen und einer der Weine des Jahres ist mit Sicher­ heit Mouton­Rothschild. Wer Cabernet Sauvignon allerhöchster Qualität schätzt, sollte sich hiervon unbedingt einige Flaschen in den Keller legen! Auch Pichon Lalande gelang ein superber, dunkelbeeri­ ger Wein. Wir teilen die Meinung des Direktors Nicolas Glumineau, dass er den 2015er deutlich über­ trifft und vielleicht sogar in die gleiche Liga wie der legendäre 1982er gehört. Armailhac und Grand­Puy­Lacoste schmeckten verführerisch, und es ist erfreulich, zu sehen, dass das lange Zeit ver­ nachlässigte Pédesclaux wieder ansprechende Gewächse erzeugt. Christian Seely von Pichon Baron öffnete gleich alle Jahrgänge zurück bis 2009. Der 2016er ist ein grosser, nobler Cabernet; der viel preiswertere, zum selben Haus gehörende Pibran dürfte einer der Preis­Leistungs­Sieger sein. Die Familie Cazes von Lynch­Bages hat einiges vor: Sie erneuert nicht nur ihr Château, sondern hat zugleich auch Haut­Batailley über­ nommen. Der Kaufpreis wurde nicht kommuniziert, dürfte aber bei 100 Millionen Euro liegen. Der Landpreis für gewöhnliche Parzel­ len in Pauillac liegt bei schwindel­ erregenden 2 Millionen Euro pro Hektare. Ein Cru classé dürfte min­ destens doppelt so teuer sein.

Interessanterweise sind gerade Premiers Crus häufig Käufer von weniger guten Lagen. Diese Trau­ ben werden dann für den Zweit­ und Drittwein verwertet und können beim derzeitigen Preis­ niveau trotz den hohen Landprei­ sen noch immer Gewinn abwerfen. In der Gemeinde St­Estèphe sind Montrose und Cos d’Estournel die besten Weine, wobei uns zurzeit Montrose ein wenig besser gefiel. Beide sind jedoch von allerhöchs­ tem Niveau. Cos­Eigentümer Michel Reybier, ein Unternehmer alter Schule, der seit langem in der Schweiz lebt, hätte auch Gruaud­ Larose erwerben können. Er betonte jedoch, dass der besondere Charakter von Cos den Ausschlag für den Kauf gegeben habe. Bei Calon­Ségur geht es nach jahre­ langen Ankündigungen qualitativ tatsächlich aufwärts.

Die Graves­-Region schien 2016 weniger erfolgreich als 2015. Jean­Philippe Delmas präsentierte eine gelungene Kollektion, die Weine wirkten jedoch relativ schlank, wobei Haut­Brion ein bisschen besser als La Mission abschnitt. Als erfreulich beurteil­ ten wir den Wein des lediglich 6,8 Hektaren grossen Carmes Haut­ Brion, das zum exorbitanten Betrag von 18 Millionen Euro 2010 den Besitzer wechselte, sowie den eleganten, klassischen Domaine de Chevalier. Massiv, voll und eines der eindrücklichsten Erzeugnisse der Appellation ist Pape Clément.

In St.­Emilion entdeckten wir zahlreiche exzellente Weine. Besonders überzeugte uns heuer Cheval Blanc und dessen Zweit­ wein, aber auch Figeac und ins­ besondere die Gewächse von Stephan Graf von Neipperg (Canon­ la­Gaffelière, Aiguilhe, Mondotte) waren grosse Klasse. Das zu Unrecht weniger bekannte La Tour­ Figeac brachte gleichfalls einen schönen Wein hervor. Ausone und Angélus waren beeindruckend, beide dürften aber 2015 die besse­ ren Weine gemacht haben. Nach dem fulminanten 2015er Canon wirkte der mittelgewichtige 2016er ein wenig harmlos.

Mein persönlicher Favorit in Pomerol war der grandiose Vieux Château Certan. Der junge Guil­ laume Thienpont verfeinerte die Selektion im Rebberg und arbeitet seit neuem nicht nur parzellen­ weise, sondern markiert sogar die Rebstöcke. Dirigiert werden die Leser präzise mittels GPS. Sehr gut, aber nicht so betörend wie 2015 war L’Evangile. Von den Moueix­ Gütern war Pétrus schlicht umwer­ fend; es dürfte einer der besten Pétrus aller Zeiten sein! Ebenfalls gelungen waren Trotanoy und Bélair Monange, Letzteres ist 2012 aus der Zusammenlegung der Pre­ mier Crus Magdelaine und Bélair entstanden. Die trockenen Weissweine erreichten oft nicht das Niveau von 2015. Insbesondere jene Winzer, die vor dem Regen am 13. Septem­ ber ernteten, erzielten Weine mit zu wenig Säure und Aromatik. Auch die Sauternes beeindruckten weniger – vielen fehlt es an Rasse.

Der Markt

Spricht man mit den Produzenten und Händlern, gehen viele von Preiserhöhungen zwischen 5 und 15 Prozent aus. Dies wird mit der hohen Qualität begründet. Inter­ essanterweise wurde seinerzeit beim Jahrgang 2013 argumentiert, dass keine Preissenkung möglich sei, weil so wenig geerntet wurde. 2016 war jedoch die umfang­ reichste Ernte seit 2006. Es wird angenommen, dass die Chinesen ein wenig kaufen werden, jedoch nie mehr in dem Ausmass wie 2010, als sie die Preise in neue Rekordhöhen trieben.

Die Produzenten, die einen Teil der Ernte zurückbehielten, weil sie auf höhere Preise hofften, haben sich verspekuliert. Château Latour, das seit 2012 nicht mehr en primeur verkauft, dürfte gar ein grosses Absatzproblem haben. Seit sich Robert Parker zurückgezogen hat, fehlt ausserdem der wichtigste Promoter der Region. Es berichten zahlreiche Journalisten, die aber allesamt nie die Bedeutung Parkers erlangt haben.

Der 2016er vermittelt den Ein­ druck, dass sich die Produzenten wieder vermehrt auf die Tugend des Bordelais besonnen haben, elegante, finessenreiche Rotweine zu erzeugen und keine über­ extrahierten Bomben. Bordeaux dürfte so weiter an Anziehungs­ kraft gewinnen – auch touristisch, zumal viele Amerikaner Paris aus Angst vor Terroranschlägen meiden; ab Juli erreicht man die Weinstadt von Paris aus mit dem TGV in zwei Stunden.

Das herausgeputzte Bordeaux hat eine enorme Wandlung durch­ laufen und ist nicht mehr zu ver­ gleichen mit dem Erscheinungsbild Anfang der 1980er Jahre, als gar noch Einschüsse aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in den rauch­ geschwärzten Fassaden zu sehen waren. 

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