Schwanders Empfehlung: Bordeaux 2014, NZZ am Sonntag, 26. April 2015

Seit gut dreissig Jahren verkoste ich die jungen Bordeaux en primeur. In dieser Zeit hat sich viel verändert: Die Châteaux sind luxuriöser geworden, der Empfang gleicht mehr dem in einer Nobel-Boutique, und die berühmtesten Crus versuchen sich bei der Herausgabe edler Jahrgangs-Broschüren zu übertreffen. Geblieben sind die gleichen Schwierigkeiten:
Der aktuelle Jahrgang wird von den Produzenten grundsätzlich zu positiv dargestellt, schliesslich soll ein möglichst hoher Verkaufspreis erzielt werden. In minuziöser Kleinarbeit gilt es dann immer wieder, herauszufinden, wie es tatsächlich hinter den Kulissen aussieht. Das weltweite Prestige der Crus Classés führte ausserdem dazu, dass eine Heerschar von Journalisten aus aller Welt den neuesten Bordeaux-Jahrgang kommentiert. Dies erleichtert es dem Konsumenten nicht, weil sehr viele inkompetente Berichte erscheinen, die häufig unbesehen die Verlautbarungen der Produzenten und Verbände wiedergeben. Auch wenn die Fassmuster mittlerweile dergestalt präpariert werden, dass sie zugänglicher sind, erfordert die Beurteilung und Charakterisierung eines neuen Jahrgangs Erfahrung. Diese zu erlangen, ist mit vielen Jahren harter Arbeit verbunden.
Erfreulich beim 2014er Jahrgang ist, dass die Wachstumsbedingungen recht überschaubar waren und geprägt wurden von dem absolut grandiosen Herbstwetter, das sich – von unbedeutenden Regenfällen abgesehen – von Ende August bis Ende Oktober stabil hinzog. So erzählte mir Denis Durantou von L’Eglise-Clinet schmunzelnd, dass er noch Mitte August in Tränen ausgebrochen wäre, hätte ihn jemand gefragt, wie er die Qualität des 2014ers einschätze. Dieses «Wunder» im Herbst ist es denn auch, das den Jahrgang kennzeichnet und für seinen besonderen Charakter verantwortlich ist. Wir lassen deshalb wie gewohnt das Rebjahr Revue passieren, denn nur anhand des meteorologischen Verlaufs während der Wachstumsperiode lassen sich wichtige Schlüsse für die spätere Weinqualität und den Charakter des Jahrgangs ableiten.

Rückschlag im Mai

Ein milder und sehr feuchter Winter – der niederschlagreichste seit fünfzig Jahren – und ein Frühjahr mit hohen Temperaturen führten zu einem rund zwei Wochen früheren Vegetationsbeginn als üblich.
Glücklicherweise blieben anfangs die Temperaturen stabil, und Frostschäden waren praktisch keine zu beobachten. Auch der April liess die Winzer bereits auf eine frühe Ernte hoffen, da er nicht nur sehr warm war, sondern auch trocken. Einen ersten Rückschlag mussten sie allerdings bereits im Monat Mai hinnehmen, der mit 14,5 °C deutlich tiefere Temperaturen als im langjährigen Durchschnitt (16,1 °C) verzeichnete. Glücklicherweise regnete es weniger stark als 2013, allerdings wurde es schnell notwendig, die Pilzkrankheiten Echter und Falscher Mehltau zu bekämpfen. In der ersten Hälfte des Monats Juni schien die Sonne, was für eine einheitliche gute Blüte sorgte.
Dann folgte der Wetterumschlag und mit ihm ein unüblich kalter Sommer. Im Juli herrschten von zwei Spitzen abgesehen tiefe Temperaturen, und es regnete an 16 von 31 Tagen. Und auch der August wich mit fast 2 °C tieferen Durchschnittstemperaturen von der Norm ab, und die höhere Regenmenge erforderte ein konstantes Überwachen der Pilzkrankheiten. Gemäss Stephan Graf von Neipperg war entscheidend, dass durch die fehlende Trockenheit im Juli und August der Wachstumsstopp ausblieb, welcher es der Rebe ermöglicht, ihre Energie statt auf die Blattwerkbildung auf die Ausreifung der Trauben zu konzentrieren. Deshalb sei es auch so wichtig gewesen, möglichst spät zu lesen, weil die Ausreifung viel länger als sonst üblich benötigte. Die Traubenkerne seien zudem nicht optimal ausgereift gewesen, deshalb hätte man auch keinesfalls zu stark extrahieren dürfen.
Ende August setzte dann plötzlich dieser grandiose, in diesem Ausmass noch nie da gewesene Altweibersommer ein, der, abgesehen von kleineren Regenfällen am 6. und 8. Oktober, bis Ende Oktober andauerte. Der September soll gar der drittheisseste seit dem 1921er und 1961er gewesen sein. Die durchschnittlichen Niederschlagsmengen illustrieren dies deutlich: im September 38 mm (bei 83 mm Durchschnitt) und im Oktober gar nur 39 mm (92 mm Durchschnitt). Der frühzeitige Austrieb liess auf eine frühe Ernte hoffen, die durch den kalten Sommer verhindert wurde. Wie 1997, 1998 oder 2004 war es kühl im Juli – allerdings profitierten diese Jahre von einem warmen August, der viel wettmachen konnte. Das Besondere am 2014er ist sein einzigartiger Herbst, der tatsächlich zu einer Art maturation froide verhalf. Der Vergleich mit dem ebenso von einem herrlichen Herbst verwöhnten, letztlich aber enttäuschenden 1978er hinkt deshalb, weil der Austrieb 1978 viel später erfolgte als 2014. Jean-Claude Berrouet, der für die Pétrus-Jahrgänge von 1964 bis 2007 verantwortlich war, ergänzte zudem, dass im August 1978 sehr viel mehr Regen fiel und dass die damaligen Erträge etwa doppelt so hoch wie heute lagen.

Kühle Frucht, höhere Säure

Die späte Reife beeinflusst den Stil der 2014er ganz erheblich, da die Sonne eine geringere Wirkung als im Juli und August entfaltete. So liegt die Säure der 2014er durchwegs höher, und die Aromatik ist – sehr im Gegensatz zu den Jahren 2009 und 2010 – von einer klassischen, kühlen Frucht geprägt. Insbesondere Bordeaux-Fans dürfte das freuen, da ja gerade diese Eigenschaft Bordeaux von anderen Regionen wie beispielsweise Kalifornien unterscheidet. So darf man den 2014er als klassisches Jahr im sehr positiven Sinne bezeichnen. Die Stilistik ist distinguiert und elegant. Zugleich sind meist keine unreifen Aromen oder Tannine feststellbar. Dass das Jahr trotz dem fulminanten Herbst nicht ganz einfach war, zeigen indes die relativ grossen qualitativen Unterschiede und die vergleichsweise geringe Zahl an Spitzenweinen, die der Jahrgang hervorgebracht hat. Der 2014er gleicht dem 2008er, ist aber kräftiger und hochwertiger. Wie gewohnt wurde eifrig darüber diskutiert, ob es nun ein Rive-Gauche- (also Médoc) oder Rive- Droite-Jahr (Libournais) sei. Oft ist der Médoc mit seinem höheren Anteil des später reifenden Cabernet Sauvignon aufgrund der einsetzenden Herbst-Niederschläge etwas benachteiligt gegenüber der früher ausreifenden Merlot-Traube, die stärker im Libournais kultiviert wird. Dies war 2014 bestimmt nicht der Fall: Im Gegenteil, wer zuwartete, konnte vollständig ausgereifte, hervorragende Cabernets ernten. Diese maturation froide war für die trockenen weissen und die süssen Bordeaux nahezu ideal, weil sie die für diese Weine unentbehrliche Säure bewahrte. Allerdings musste sehr sorgfältig gearbeitet werden, da auch die Sauternes-Rebberge von der Kirschessigfliege (Drosophila suzukii) heimgesucht wurden. Die Regenfälle am 6. und 8. Oktober sorgten dann dafür, dass sich endlich Botrytis in ausreichendem Ausmass ausbreitete und dem tüchtigen Winzer ein hervorragendes Jahr bescherte. Nur ein Teil der Konzentration wurde allerdings durch die Botrytis verursacht, ein Teil der Trauben trocknete ein. Zu Recht freute sich Pierre Lurton über den Yquem, der eine grandiose Säure mit einer herrlichen, wunderbar eingebundenen Süsse vereint. Der 2014er dürfte einer der ganz grossen Yquems sein, und für mich ist es gar der beste Wein der Primeurverkostung! Stephan Graf von Neipperg, der an Guiraud beteiligt ist, erläuterte die Bedeutung einer raschen Lese. Je länger zugewartet werde, desto mehr werde die so wichtige Säure durch die Botrytis abgebaut. So setzte Guiraud 120 Lesehelfer ein. Gerade die wunderbar erfrischende, glasklare Säure hebt den 2014er von den meisten Jahrgängen ab. Recht oft leiden die Sauternes unter einer zu tiefen Säure, was ihren Genuss beschwerlich macht. 2014 gelangen zahlreiche brillante Sauternes – Liebhaber sollten sich unbedingt einige Flaschen dieses Jahrgangs in den Keller legen!

Margaux und Graves schwächer

Die beiden Appellationen, die uns weniger gefielen, waren eindeutig Margaux und Graves. Château Margaux schlug sich recht ordentlich, allerdings wirkte der finessenreiche Wein ungewöhnlich leicht; ausgezeichnet hingegen war der Pavillon Blanc. Palmer, das seinen ersten biodynamischen Jahrgang einbrachte, erzeugte einen muskulösen, dichten Wein mit recht viel Tannin. Sonst bot die Appellation zwar sehr zufriedenstellende Gewächse, aber wenige Höhepunkte. Marquis d’Alesme Becker und Durfort-Vivens, zwei häufig mässige Crus, schnitten besser ab als sonst. Auch im Graves kam bei den Rotweinen keine richtige Begeisterung auf. Am gelungensten waren Haut-Brion und La Mission, die beide vergleichsweise viel Merlot enthielten, weil ein Teil des Cabernets an den zwei Hitzetagen des 16. und 17. Juli verbrannte. Enttäuschend zum jetzigen Zeitpunkt war Pape-Clément. Dagegen gefielen zahlreiche der trockenen, weissen Graves aufgrund  ihrer frischen, fruchtbetonten Art ganz besonders. Wie gewohnt eine der besten Appellationen war St-Julien. Der Spitzenreiter dürfte Léoville-Poyferré sein, dicht darauf folgt Ducru-Beaucaillou und Léoville-Las Cases. Grund zur Hoffnung gibt Beychevelle, das nach vielen unbefriedigenden Jahrgängen erstmals wieder einen sehr schönen Wein präsentierte. Léoville- Barton war er neut nicht ganz so gut wie erwartet. In Pauillac lieferten die Premiers Crus Mouton und Lafite zwei sehr solide Weine ab. Allerdings hätte man sich von beiden noch ein wenig mehr erhofft. Überraschend schön gelungen ist das zu Lafite gehörende Duhart-Milon, über das sich der Lafite-Domänenchef Charles Chevallier zu Recht freute. Ein klassischer, rundum geglückter Lynch-Bages gelang der Familie Cazes. Der 2014er ist ein konzentrierter, sehr nobler, vom Cabernet betonter Wein. Jean-Charles Cazes vermerkte, dass besonders die alten Cabernet-Stöcke eine grossartige Qualität ergaben. Pichon-Lalande, auf dem der zweite Jahrgang im neuen Keller vinifiziert wurde, wird von Nicolas Glumineau kompetent betreut. Er ist der Meinung, dass der Merlot einen sehr guten Sommer benötigt, um wirklich gross zu werden. Der Cabernet-Sauvignon könne dagegen auch von einer ausgedehnten Reifeperiode im Herbst profitieren. Pichon-Lalande wirkte kompakt und elegant, schien allerdings nicht ganz das Niveau des Lynch-Bages zu erreichen. Dies trifft sicher auch auf Pichon-Baron zu, dessen harte, massive Tannine wenig einladend wirkten.

Überzeugender Cos d’Estournel

Einen der besten Rotweine des Jahres kosteten wir auf Cos d’Estournel. Raphaël Reybier, der Sohn des Eigentümers, erläuterte, dass man von einer zu starken Extraktion abgekommen sei. Tatsächlich scheint dieser Ansatz sehr erfolgversprechend zu sein. So gefiel uns der dichte, noble Cos ausserordentlich gut. Überraschend köstlich war auch der weisse, zu zwei Dritteln aus Sauvignon blanc bestehende Cos d’Estournel, der sich erstmals dem roten Cos qualitativ näherte. Auch Hervé Berland von Montrose strahlte übers ganze Gesicht; es gelang ihm ein wunderbar eleganter, finessenreicher Wein! Stéphane Derenoncourt, einer der angesehensten Weinberater der Rive Gauche, räumte aufgrund der kieshaltigen Böden dem Médoc 2014 einen kleinen Vorsprung gegenüber dem Libournais ein. Auch er zeigte sich hocherfreut über die 2014er und hob hervor, dass 2008 deutlich kühler war als 2014. Superb ist Ausone gelungen, ein massiver und viriler Wein, und auch der Zweitwein Chapelle d’Ausone zählt zu den Gewinnern des Jahres, obwohl es von diesem Wein nur 6500 Flaschen geben wird. Cheval-Blanc wirkt im Moment recht belanglos; möglich, dass der hohe Cabernet-Franc-Anteil das Potenzial noch nicht ganz erahnen lässt. Auch Angélus blieb hinter den Erwartungen zurück. Rundum erfreulich ist die Entwicklung auf Château Figeac, wo wir ein elegantes, komplexes Gewächs kosteten. Die überextrahierten, erschreckend gerbstoffhaltigen Weine von Gérard Perse (Pavie, Monbousquet usw.) dürften indes nur etwas für Wagemutige sein. Rundum hervorragend sind sämtliche Erzeugnisse von Stephan Graf von Neipperg ausgefallen, wobei der Canon-la-Gaffelière erstaunlich nahe zum wesentlich kostspieligeren La Mondotte aufgeschlossen hat. Im Pomerol überzeugt Pétrus durch seinen finessenreichen Charakter. Olivier Berrouet, der Direktor, teilte uns mit, dass die Blüte etwas unregelmässig gewesen sei und die Erträge deshalb bei lediglich 30 Hektolitern pro Hektare lagen. Ebenfalls hervorragend sind Eglise-Clinet und Evangile, das durch seinen fülligen, barocken Geschmack begeisterte.

Schwieriger Markt

Handel und Produzenten in Bordeaux sehen sich mit der schwierigen Lage konfrontiert, über unverkaufte Bestände älterer Jahrgänge zu verfügen. Noch immer liegen sogar einige von den Chinesen noch nicht bezahlte 2010er in Bordeaux. Zahlreiche zu teuer verkaufte Primeurweine sind zudem jetzt preiswerter im Angebot als seinerzeit in Subskription. Der chinesische Markt, der aufgrund der Spekulation und der verbreiteten Korruption einige Jahre die grösste Menge der Crus Classés zu völlig irrwitzigen Preisen abgenommen hat, normalisiert sich zusehends, und die Nachfrage sinkt. Das Hauptproblem ist, dass die wegen der Marktüberhitzung dringend notwendige Preiskorrektur mit dem 2011er nicht vorgenommen wurde und auch die beiden Nachfolgejahrgänge viel zu teuer verkauft wurden. Wird jetzt der 2014er, der besser ist als die Vorgängerjahrgänge, preiswerter angeboten, drohen grosse Abschreibungen auf 11er, 12er und 13er. Mitte April sind noch nicht viele Châteaux mit ihren Weinen auf den Markt gekommen. Es scheint im Moment, als ob die 2014er zu ähnlichen Preisen wie die 2013er verkauft werden. Ob der Markt gewillt ist, für den zwar guten, aber nicht aussergewöhnlichen Jahrgang 2014 diese Preise zu entrichten, ist ungewiss. Der interessierte Konsument ist deshalb gut beraten, vorderhand abzuwarten. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass die Preise weiterhin sinken.

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