Schwanders Empfehlung: Bordeaux 2012, NZZ am Sonntag, 28. April 2013

Das schwierige Bordeaux-Jahr 2012 ist vor allem in Pomerol und St-Emilion gut gelungen, findet Master of Wine Philipp Schwander

Es wirkt wohltuend: Die penetranten Lobeshymnen der Bordelaiser auf den neuen Jahrgang blieben heuer überraschenderweise aus. Jedermann liess durchblicken, dass der Wetterverlauf nicht optimal gewesen sei und 2012 sicher nicht zu den grossen Jahrgängen zähle. Besonders freuten wir uns an der farbigen Jahrgangscharakterisierung des Lafite-Direktors Charles Chevallier: «Ich hatte letztes Jahr eine Rebberg- praktikantin, die ganz begeistert war, weil sie sämtliche Rebkrankhei- ten kennenlernen konnte, die es im Bordelais gibt. Auch waren meine Mitarbeiter entzückt, dass es bereits im Juni Pilze zu essen gab.» Die un- gewohnte Offenheit hängt wohl mit der unerfreulichen Marktlage zusammen, die berechtigte Hoffnungen auf eine Senkung der noch immer unsinnig hohen Preise weckt.

Ein spätes Jahr

Kennzeichen ennzeichen des 2012ers sind sein später Austrieb und seine späte Reife. Der sehr kalte Februar ver- setzte die Reben nachträglich in einen regelrechten Winterschlaf und war Ursache für die späte Ent- wicklung, die durch einen unüblich kalten, nassen April noch akzentuiert wurde: 18 Regentage, nur 120 Sonnenstunden und Nieder- schläge von 178 mm (langjähriger Durchschnitt 78 mm) sorgten be- reits zu Beginn für einen markan- ten Rückstand der Vegetation. Generell war das Frühjahr ziemlich nass, und sofern nicht kon- sequent gespritzt wurde, breiteten sich Pilzkrankheiten heftig aus. Unglücklicherweise fiel auch die Blüte in der ersten Juniwoche in eine kalte und feuchte Wetterperiode. Dies förderte die Verrieselung (schlechte Befruchtung der Blüten) insbesondere beim Merlot und brachte empfindliche Ertragsreduk- tionen. Weiter führte die schlechte Blüte zu einer ungleichen Ausbil- dung der Trauben, die selbst an einem Stock völlig unterschiedliche Reifestadien aufweisen konnten.

Die erste Hälfte des Juli war zwar trocken, aber relativ kühl. Der gros- se Umschwung stellte sich Mitte Juli ein. Der 15. Juli markierte den Beginn eines prächtigen Sommers, der  bis in den September hinein andauerte und teilweise – aufgrund des Was- sermangels – sogar Reifeblockaden bewirkte. Der August war heiss und trocken, die Niederschläge lagen bei lediglich 20 mm. Der langjährige Durchschnitt beträgt 60 mm. An zwölf Tagen im August wurden Temperaturen über 30 °C gemessen. Die sogenannte Véraison (der Farb- wechsel der Traubenbeeren) verlief allerdings spät, sehr ungleich und dauerte fast den ganzen August.

So konnte man Ende August immer noch zahlreiche Cabernets mit grünen Beeren sehen. Die qualitäts- bewussten Produzenten führten deshalb im August eine strenge Grünlese durch, um solche Trauben zu eliminieren. Diese Arbeit ist sehr wichtig, weil unreife Trauben später, während der Ernte, nur noch schwer von reifen zu unterscheiden sind. Die Traubenbeeren waren ausser- dem grösser als üblich, was zum Teil den eher harmlosen Charakter der Weine erklärt.

Ein altes Winzersprichwort sagt: «Août fait le moût.» (Der August macht den Most bzw. den Wein.) Dass daran etwas Wahres ist, beweisen die Jahre, in denen im August schlechtes Wetter herrschte. Als jüngstes Beispiel kann der 2006er mit dem regnerischen, küh- len August angeführt werden, der vom Charakter her wenig charmante, recht tanninreiche Weine ergab. Die Jahrgänge 2008 und 2007 litten gleichfalls unter einem schlechten Sommer, allerdings profitierten beide im Gegensatz zum 2006er von einem prächtigen Herbst. Der 2012er nun hatte einen herrlichen Sommer und einen mehrheitlich trockenen, warmen September. So litten die jungen Reben auf leichteren Böden unter der Trockenheit, und an einigen Orten stellte man Reifeblockaden fest. Ältere Reben und solche, die auf Lehm- oder Kalksteinböden stehen, hatten dagegen kaum Probleme mit der Trockenheit.

Das Wetter wechselte  abermals am 25. September. Die ersten Schau- er waren wegen  der  Trockenheit sehr willkommen. Allerdings führten die starken Regenfälle im Oktober dazu, dass sich die Graufäule ausbreitete. Das Dilemma war gross: Die Winzer hatten die undankbare Wahl, entweder gesunde, aber mehrheitlich unreife Trauben zu ernten, oder aber das Risiko einer späteren Ernte mit faulen Trauben auf sich zu nehmen. Rückblickend kann festgehalten werden, dass das Zuwarten ein Fehler war. Palmer, eines der Weingüter, die am frühesten lasen, erzeugte einen der besten Médoc-Weine des Jahrgangs. Den Wende- punkt markierte die zweite Oktoberwoche. Von da an las jedermann, weil die Gefahr, durch Fäulnis alles zu verlieren, sehr gross geworden war. Die schwersten Niederschläge fielen vom 18. bis 20. Oktober. Beim Besuch auf den Weingütern und im Gespräch mit den Verantwortlichen fiel auf, dass versucht wurde, zu sug- gerieren, man habe den grössten Teil der Ernte noch Ende September einbringen können. Dies trifft leider nicht zu. Praktisch alle lasen im Oktober. 2012 war somit ein äusserst spät reifendes Jahr. Insbesondere beim Cabernet Sauvignon wären eigentlich noch zwei Schönwetterwochen notwendig gewesen, um Vollreife zu erreichen.

Erfolgreiches Libournais

Die besten Weine des Jahres, die man teilweise sogar mit den 19Die besten Weine des Jahres, die man teilweise sogar mit den 1998ern vergleichen darf, wurden zweifellos im Libournais erzeugt. Manche Weingüter konnten aufgrund der deutlich früheren Reife des Merlots einen beträchtlichen Teil vor den grossen Regenfällen einbringen. Ihre Weine liegen denn auch qualitativ weit über den doch meist sehr harmlosen Weinen des Médoc.

Die Erntekonstellation begünstigte besonders die Appellation Pomerol, die noch vor St-Emilion las. Einer der besten Weine des Jah- res stammt von Pétrus. Der junge Direktor Olivier Berrouet servierte uns einen üppigen, reichhaltigen, äusserst charmanten Wein, der zu 100 Prozent aus Merlot besteht.

Den letzten Cabernet Franc riss Pétrus nach der Ernte 2010 aus. Ber- rouet betonte, dass man den 2012er deutlich über dem 2011er einstufe. Einen exzellenten Wein präsentierte man uns auch auf Cheval- Blanc, das mit 71 Prozent «grand vin» ein äusserst zufriedenstellendes Jahr hinter sich hat. Der neu erbaute Chai ermöglicht der Equipe, mit noch grösserer Präzision zu arbeiten. So können jetzt die Ernten sämtlicher Parzellen separat in den modernen Betontanks vergoren werden. Ebenfalls zu den gelungensten Weinen des Jahres darf man den Angélus zählen, einen beeindruckenden, fleischigen Wein mit erstaunlich viel Finesse. Angenehm überrascht waren wir von Gérard Perses Weinen: Pavie und Monbousquet schienen für einmal nicht über-extrahiert zu sein und bestachen durch ihre hohe Qualität.

Zu den besten zählte auch Stephan Graf Neippergs La Mondotte. Mit ihm diskutierten wir die neuen optischen und mechanischen Selektionsapparaturen, mit deren Hilfe Trauben schlechter Qualität aussor- tiert werden können. Seiner Mei- nung nach werden die Möglichkeiten überschätzt. Er stuft die konsequente Verbesserung des Pflanz- materials im Rebberg als wichtiger ein. Bei den technischen Hilfsmitteln erachtet er die neuen Entrapper, welche die Trauben sorgfältiger ablösen als zuvor, als ebenso relevant wie die neuen Sortiergeräte.

Graves-Region begünstigt

Durch die frühere Reife wurde eben- falls die Graves-Region begünstigt, wo wir neben dem Libournais die gelungensten Weine verkosteten. Auch Haut-Brion profitierte von der früheren Lese, die dort bereits am 17. September begann, und kelterte einen wuchtigen Rotwein mit bei- nahe 15 Prozent Alkohol und dem höchsten Merlot-Anteil seit Jahren. Sehr schöne Weine entdeckten wir auf Pape-Clément und Haut-Bailly. Fieuzal verdient es, besonders her-vorgehoben zu werden. In letzter Zeit degustierten wir dort aus- gezeichnete Rotweine, die zudem preislich noch vernünftig sind.

Unsere Begeisterung für den 2012er Jahrgang erlitt einen emp- findlichen Dämpfer, als wir die Weine des Médoc prüften. Sprechen wir es offen aus: Der im Médoc weit verbreitete, rund zwei Wochen spä- ter als der Merlot reifende Cabernet Sauvignon musste aufgrund der Re- genfälle zu früh gelesen werden.

Glücklicherweise stellten wir wenig grüne, krautige Aromen fest. Auch schienen die Produzenten sorgfältig extrahiert zu haben, weil harte Tan- nine die Ausnahme bildeten. Die vergleichsweise geschmeidigen Gerbstoffe sind sicher auch auf den prächtigen Sommer zurückzufüh- ren. Bei einigen Weinen stellten wir eine höhere Säure als üblich fest.

Zahlreiche Médocs wirkten leicht und harmlos, darunter erstaunli- cherweise auch einige Premiers Crus. Neben Palmer überzeugten uns Cos d’Estournel, das seltsamer- weise einen sehr bescheidenen Weisswein unter dem eigenen Namen vorstellte, sowie Pichon-Ba- ron, Léoville-Las Cases, Léoville- Poyferré und Malescot St-Exupéry. Die meisten Médocs wirkten neben diesen gelungenen Beispielen etwas unbedarft und simpel. Es kann indes durchaus sein, dass sie sich in eini- gen Jahren zu charmanten Tischbe- gleitern entwickeln werden. Zahlrei- che Weine aus dem Médoc bewer- teten wir als qualitativ ungenügend.

Sehr zu reden gibt die Neuklassi- fizierung der Weine von St-Emilion. Schon immer herrschte in dieser Appellation eine Grand-Cru-Infla- tion. Sie wurde dieses Jahr noch ein- mal verstärkt und brachte einige Neuerungen mit sich, die umstritten sind. So wurden Pavie und Angélus neu in die gleiche, oberste Kategorie wie Ausone und Cheval-Blanc er- hoben. Bei den oft völlig überextra- hierten Weinen von Gérard Perse (Pavie) ist dieses Ergebnis für den Aussenstehenden befremdlich. Weil die Verkostung in der neuen Bewer- tungstabelle nur 30 Prozent aus- macht und Nebensächlichkeiten wie Empfangsservice, Önotourismus und Repräsentativität der Gebäude bewertet werden, ist Pavies Upgrade allerdings besser nachvollziehbar. Der Patron lässt sich zudem ein neues, grössenwahnsinniges Keller- gebäude erstellen und beschriftete selbst die Spucknäpfe bereits mit «1er Grand Cru Classé A».

Überhaupt gewinnt man bei den unzähligen Baustellen auf den Wein- gütern den Eindruck, dass jeder renommierte Produzent sich ein Denkmal mit einer möglichst prot- zigen Kellerei setzen will. Auch die Beförderung von Angélus ist nicht völlig verständlich, ausser man weiss, dass der Eigentümer eng mit dem INAO verbandelt ist, das für die Klassifzierung verantwortlich zeich- net. Bei Figeac, das die Aufwertung in die höchste Stufe erneut nicht schaffte, rollten gar die Köpfe. So wird sich künftig der Star-Önologe und Parker-Intimus Michel Rolland um die Weine kümmern. Wie uns Alain Vauthier, der Eigentümer von Ausone, mitteilte, ist es jedoch un- wahrscheinlich, dass die neue Klas- sifikation in Kraft treten wird, weil sie zu viele Angriffspunkte biete.

Bescheidene Nachfrage

Die derzeitige Marktsituation ist für die Bordelaiser ungemütlich. China, das in erster Linie für die preislichen Höhenflüge der Jahrgänge 2009 und 2010 verantwortlich war, kauft plötzlich nur noch wenig. Die meisten Käufe der Chinesen wurden nicht aus Liebe zum Wein, sondern aus Spekulations- und Repräsentationsgründen getätigt. Grund für die Misere ist letztlich die Gier der Produzenten, die spätestens seit dem Jahrgang 2000 immer den höchstmöglichen Preis durchsetzten. Dadurch fanden nach Auslieferung der Primeur-Weine praktisch keine Preissteigerungen mehr statt. In einigen Fällen lagen die späteren Marktnotierungen sogar unter den Subskriptionspreisen. Zurzeit sind noch viele unverkaufte 2010er an Lager. Die Kampagne für den 2011er war gar ein Flop, weil die Produzenten ihre Preise zu wenig reduzierten. Aber selbst eine drastische Preisreduktion ist gefährlich. Sinken die Preise des 2012ers zu stark, bleiben die Händ- ler definitiv auf dem zu teuren 2011er sitzen. Der 2012er ist mit Sicherheit kein Jahrgang, den man en primeur einkaufen muss. Dem Bordeaux-Liebhaber bieten sich später genügend Gelegenheiten, diese Weine zu erwerben. Konsequent ist die neue Verkaufsstrategie von Latour: Der 2012er wird nicht mehr in Subskription, sondern erst im Jahr 2021 angeboten. 

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