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Kunstkarten
Piranesi, Frontispiz «Antichità Romane», Band II 1756
Radierung auf Bütten, Phantastisches Architektur-Capriccio
Wenige Künstler des 18. Jahrhunderts waren so einfallsreich und kreativ wie der italienische Radierer Giovanni Battista Piranesi (1720 – 1778), der zwar nach eigenem Bekunden lieber Architekt geworden wäre, doch stattdessen zum Meister der graphischen Künste avancierte. Rom wurde nach Anfängen in Venedig zum intellektuellen und emotionalen Zentrum seines Wirkens, das sich in einer Fülle verschiedenster Werke und Zyklen niederschlug. Dabei entfaltete sich Piranesi einerseits als (dramatisierender) Realist, der die antiken und barocken Denkmäler der ewigen Stadt ins Bild setzte und dabei nach und nach einen untrüglichen Sinn für gewagte Perspektiven bewies. Anderseits eroberte er sich einen Kosmos fantastischer Ideen und Einfälle, von Ruinen-Capriccios über ironisierende Trompe-l’œils bis hin zu eigentlichen Kerker-Fantasien, die mit dem grossen, in zwei Versionen edierten Zyklus der Carceri d’Invenzione einen ebenso überragenden wie inspirierenden Höhepunkt fanden.
Berühmt ist Piranesis Ausspruch geworden, dass er, wenn er den Auftrag erhielte, ein neues Universum zu bauen, verrückt genug wäre, denselben anzunehmen und umzusetzen. Hier drückte sich der zu seiner Zeit mächtig ins Kraut schiessende Genie-Kult der Goethe-Zeit aus, die eben nicht nur klassische Strenge verlangte, wie sie der deutsche Archäologe Winckelmann mit seinem Motto für die Kunst der Griechen («edle Einfalt, stille Grösse») beschwor, sondern auch den Zug ins Romantisch-Gewagte, Fantastische, herkömmliche Grenzen Sprengende riskierte. Insofern ist Piranesi ein wichtiger Vorläufer des grössten Künstlers des Epochenumbruchs um 1800: Francisco de Goya.
Alles Architektonische zog Piranesi magisch an – sei es in den Wirklichkeiten des damaligen Rom und seiner Umgebung mit den Überresten römischer Baukunst, die fast immer von üppiger Vegetation überwuchert waren und dadurch per se schon malerisch wirkten; sei es in den imaginierten oder imaginären Fantasien einer idealisierten Monumental-Architektur, wie sie bereits um 1700 in den Entwürfen diverser europäischer Künstler kristallisierte.
So schuf Piranesi Ansichten-Werke, die entweder das Ruinöse, von der Zeit Beschädigte und daher umso Heroischere porträtierten oder umgekehrt vorführten, wie grosse Baukunst aussehen sollte, würde sie denn in seinem eigenen Jahrhundert tatsächlich umgesetzt. Gerade für die zweite Gattung der imaginierten Monumentalbauten zeigte dann nur wenige Jahrzehnte später die sogenannte Revolutionsarchitektur der Franzosen ein neugierig-kreatives Interesse an Piranesi.
Es waren jedoch die vier Bände der Antichità Romane, die 1756 einem staunenden und sogleich enthusiastischen Publikum vorgelegt wurden, welche Piranesis Ruhm weit über die Landesgrenzen hinaus bis nach London, Paris, Warschau, Madrid und St. Petersburg verbreiteten. Hier unternahm es Piranesi mit dem Gewissen des gebildeten Architekten und gewieften Archäologen, die Fülle der römischen Altertümer in äusserst suggestive Radierungen zu transponieren. Die Brücken, die Sakralbauten, die Triumphbögen, die Theater, die Grabstätten, die Foren und viele andere Testate der Antike erhielten eine Dringlichkeit, die um so stärker ins Gewicht fiel, als der damalige Rom-Reisende keine vergleichbaren Eindrücke in der Realität erhalten konnte: Piranesi deutete und ergänzte, liess spätere An- und Umbauten weg, um die Reinheit des Originals zu bezeugen, was immer dies heissen mochte, und fügte auch Ansichten etwa der Substruktionen selbiger Monumente hinzu, die niemand je so hatte sehen können. Sie erstanden allein durch seine Einbildungskraft, wie etwa das grandiose Blatt mit den Fundamenten des Mausoleums Kaisers Hadrians zeigt, das aus einer ungeheuren, fast das ganze Motiv umspannenden Grundmauer besteht, die sich in die Tiefe respektive in die Höhe bewegt, während ein paar winzige Männer auf den Quadern herumklettern, als seien sie in einer anderen Welt gelandet.
Natürlich war Piranesi auch ein brillanter Techniker. Es gelang ihm mit seinem zugleich malerischen und entschiedenen Zugriff, eine geradezu physisch erfahrbare Räumlichkeit zu erzeugen, die dem Betrachter insbesondere in den beiden Zyklen über die Carceri, aber auch in vielen Ansichten der Folge der Vedute di Roma oder schliesslich in seinem Vermächtnis, den Blättern über die seinerzeit vor kurzem erst entdeckten griechischen Tempel von Paestum, südlich von Neapel, förmlich in die Augen springt.
Das dem zweiten Band der Antichità Romane vorgelagerte Frontispiz ist zweifellos eine der verrücktesten Erfindungen des Meisters. Es zeigt zwei römische Prachtstrassen so, als ob noch alles intakt und aus dem Leben gegriffen wäre. Jedoch entwirft diese Szenerie einen Überschwang an fiktiven Bauten zwischen den besagten Strassen, der einem babylonischen Traum entsprungen sein könnte. John Wilton-Ely kommentiert dieses Blatt in seinem Standardwerk über Piranesi («Giovanni Battista Piranesi, Vision und Werk», 1978) wie folgt: «Den Schwerpunkt der Antichità bilden […] Darstellungen der Grabmäler in Band II und III, denen jeweils ein eigenes Frontispiz voransteht – Produkte febriler Phantasie.»
Darüber hinaus ist diese Darstellung eine unerhörte Verdichtung von Zitaten, welche Bauten, Skulpturen und Inschriften aus der römischen Antike heraufbeschwören – eine Kompression der Grösse und Majestät der alten Römer auf engem Raum, als sei der Künstler nicht der Arrangeur dieses kapitalen Ineinander gewesen, sondern lediglich dessen Zuschauer respektive Chronist. Kein Wunder, dass sich auch spätere Künstler mit romantischer Erfindungsgabe wie etwa Robert Adam, John Soane oder Joseph Gandy von solchen Visionen inspirieren liessen.