Eine ganz besondere, zurückgezogen lebende Persönlichkeit, die jedes Spektakel mied, war Giorgio Morandi (1890 – 1964), einer der bedeutendsten italienischen Künstler des 20. Jahrhunderts.
1907 immatrikulierte er sich an der Accademia di Belle Arte in Bologna und glänzte bis 1911 durch hervorragende schulische Leistungen. Allerdings war der weitere Verlauf des Studiums von Gegensätzen mit seinen Professoren geprägt. So bestand er schliesslich nur knapp das Zeichenlehrerexamen und erhielt nachher lediglich bescheidene Aushilfsposten an Grundschulen zugeteilt. Während seines Kunststudiums setzte er sich intensiv mit der Renaissance auseinander. In einem Aufsatz von 1928 schrieb er: «Unter den Renaissance-Malern interessieren mich die Toskaner am meisten – Giotto und Masaccio vor allem. Was die modernen Zeitgenossen betrifft, betrachte ich Corot, Courbet, Fattori und Cézanne als die legitimen Erben der glorreichen italienischen Tradition.» Neben Cézanne, dem sein spezielles Interesse galt, begeisterte er sich für Jean Siméon Chardin, der im 18. Jahrhundert durch seine aussergewöhnlich klaren, zurückhaltenden Stillleben Berühmtheit erlangte. Von wenigen Portraits abgesehen, bildete Morandi keine Menschen ab. Er experimentierte stattdessen mit Flächen und Räumlichkeit, wobei er oft belanglose Alltagsgegenstände beinahe bis zur Abstraktion wiedergab. Immer wieder arrangierte er dieselben Objekte, häufig Flaschen und Krüge, aufs Neue. Einmal sagte er: «Ich benötige Wochen, um mich zu entscheiden, welche Flaschengruppe gut zu einer bestimmten Tischdecke passt. Dann weitere Wochen, um über die Flaschen selbst nachzudenken, und doch mache ich oft immer noch Fehler mit den Abständen: vielleicht arbeite ich zu schnell?»
Morandi ordnete alles seiner Arbeit unter. Er lebte sehr spartanisch und konzentrierte sich nahezu uneingeschränkt auf sein Schaffen. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er entweder in oder nahe seiner Geburtsstadt Bologna, wo er auch starb. Das Reisen war ihm verhasst. Nur einmal in seinem Leben unternahm er einen Abstecher ins Ausland: 1956 nach Winterthur, um Oskar Reinhart zu besuchen. Als Sohn eines Kaufmanns war er in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Er heiratete nie und wohnte mit seinen drei Schwestern bis zu seinem Tod in der Via Fondazza 33. Den Sommer verbrachte er jeweils im nahen Bergdorf Grizzana (das heute Grizzana-Morandi heisst), wo seine Landschaftsbilder entstanden; insbesondere nachdem er als starker Raucher an Lungekrebs erkrankt war, hielt er sich öfter dort auf. Im Jahr 1930 wurde Morandi ohne Ausschreibung und aufgrund seines Renommees zum Professor für Radiertechnik an der Accademia di Belle Arti in Bologna ernannt, wo er von 1907 bis 1913 studiert hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt verdiente er in verschiedenen Volksschulen als Zeichenlehrer seinen Lebensunterhalt. Er war ein grossgewachsener, hagerer ein wenig gebeugter Mann, galt als nachdenklich und wortkarg, sprach leise und sagte einmal von sich: «Ich hatte das Glück, ein ereignisloses Leben zu führen.» Morandi war ab 1928 an der Biennale präsent; 1948 gewann er den ersten Preis für Malerei. Als er bekannter wurde und viele ihn besuchen wollten, meinte er: «Ich bitte um nichts, ausser um ein wenig Ruhe, die für mich und meine Arbeit unerlässlich ist.» 1960 verewigte Fellini den Künstler in seinem berühmten Film «La Dolce Vita» als Inbegriff kultureller Raffinesse und Verfeinerung.
Einblick in Morandis Welt gab sein Freund Raffaello Franchi, der erzählte: «Sein Haus war in zwei Welten aufgeteilt. In einer Hälfte lebten seine Schwestern mit der Mutter, ordentlich und alles blitzsauber. In der anderen lebte der Künstler mit seinem Werk. Man konnte sie nicht als schmutzig bezeichnen, nur weil der dicke Staub alles bedeckte. Es war eine Art religiöser Respekt für die Alltagsdinge, die ihm heilig waren.» Das schlichte Atelier mit Ausblick auf ein Gärtchen im Hinterhof diente ihm zugleich als Schlafzimmer mit einem schmalen Feldbett. Besucherberichten zufolge war der Boden mit verschiedenen Gefässen wie Flaschen, Krügen, Vasen und anderen Alltagsgegenständen verstellt, die er für seine Stillleben verwendete. Der Künstler Josef Herman schilderte Morandis Zimmer so: «Der Boden war bei weitem der unordentlichste Teil des Raumes, übersät mit Flaschen. Sie hatten nichts von seinen Bildern, obwohl ich einige Flaschen von seinen Gemälden erkannte: Die Noblesse der Farben und Texturen in seinen Bildern war offensichtlich die Kreation Morandis.» Seine oft meditativen, zurückhaltenden Arbeiten sind in gedämpften, ockerähnlichen Farben gehalten, die er selber mischte. Werner Haftmann beschrieb sie als «nuancenreiche, lyrisch-figurative Tonmalerei». Seine Einführung zum Ausstellungskatalog von 1989 gibt einen hervorragenden Einblick in das Leben Morandis.
Morandis über 130 Druckgraphiken, die ebenfalls Stillleben und Landschaften zum Motiv haben, stellten für ihn nicht bloss eine Ergänzung seines malerischen Werks oder ein simples Zusatzeinkommen dar; die Radierung, die er sich – höchst ungewöhnlich – selbst beigebracht hatte, spielte in seinem Leben und Schaffen eine bedeutende Rolle und nahm einen eigenständigen Platz neben der Malerei ein. Seine subtilen, der grösstmöglichen Reduktion verpflichteten Arbeiten zählen zu den wichtigsten italienischen Druckgraphiken des 20. Jahrhunderts. Die meisten dieser Werke entstanden in der Zeit von 1926 – 1932, aber auch später, als er sich vermehrt der Malerei zuwandte, blieb er der Kunst des Radierens treu. Die vorliegende Arbeit gehört zu seinen bedeutenden und grössten graphischen Stillleben. Morandi starb 1964 in Bologna im Alter von 74 Jahren.
Giorgio Morandi, DuMont Buchverlag 1989, herausgegeben von Götz Adriani, Ulrich Krempel und Michael Semff anlässlich der Ausstellungen in Tübingen und Düsseldorf.
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